MÜNCHEN (BLK) – Im Juli 2009 ist bei dtv der Krimi „Die grausamen Sterne der Nacht“ von Kjell Eriksson erschienen.
Klappentext: Uppsala im Herbst 2003. Laura Hindersten meldet ihren Vater, einen Petrarca-Forscher und seltsamen Kauz, vermisst. Kurz darauf werden auf dem Land zwei ältere Bauern erschlagen aufgefunden. Zwei Morde ohne erkennbares Motiv. Ann Lindell und ihre Kollegen von der Kriminalpolizei in Uppsala tappen im Dunkeln. Die Ermittlerin darf keine Zeit verlieren, denn schon wieder ist ein älterer Mann erschlagen worden. Da wartet ein Kollege mit dem verblüffenden Hinweis auf, der Fall erinnere an eine berühmte Schachpartie …
Kjell Eriksson, geboren 1953, lebt bei Uppsala und hat eine Gärtnerei. Seine Kriminalromane wurden in Schweden mehrfach ausgezeichnet. Auf Deutsch sind von ihm bisher erschienen: „Das Steinbett“ (2002), „Der Tote im Schnee“ (2003) und „Nachtschwalbe“ (2004). (ber/rud)
Leseprobe:
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September 2003
„Ist Ihr Vater in letzter Zeit öfter deprimiert gewesen?“
Kriminalassistentin Åsa Lantz-Andersson sah zu Boden, sobald sie die Frage gestellt hatte. Die Frau, die ihr gegenüber saß, schaute sie derart fordernd an, daß es Lantz-Andersson schwerfiel, diesem Blick standzuhalten. Laura Hindersten schien mit ihm sagen zu wollen: Ich glaube nicht, daß ihr meinen Vater finden werdet, und zwar aus einem einzigen Grund: Ihr seid nichts weiter als eine Ansammlung inkompetenter Stümper, die man in Uniformen gesteckt hat.
„Nein“, sagte Laura Hindersten mit Nachdruck. Åsa Lantz-Andersson seufzte. Ihr Schreibtisch war voller Ordner und Akten.
„Keine Anzeichen, daß er sich Sorgen gemacht hätte?“
„Nein, wie gesagt, er war eigentlich wie immer.“
„Was heißt: wie immer?“
Laura Hindersten lachte. Es war ein kurzes, trockenes Lachen, das die Polizistin an eine ihrer Vorschullehrerinnen erinnerte, die den Kindern das Leben schwergemacht hatte. Auch in deren Lachen hatte Hochmut mitgeschwungen, der sich mit Verbitterung darüber mischte, solche idiotischen Schüler ertragen zu müssen.
„Mein Vater ist Universitätsdozent und Forscher und widmet all seine Zeit seinem Lebenswerk.“
„Und das wäre?“
„Es würde zu weit führen, hier darauf näher einzugehen, aber um es kurz zu machen, kann ich Ihnen sagen, daß er einer der führenden Petrarca-Experten des Landes ist.“
Åsa Lantz-Andersson nickte.
„Ich verstehe“, sagte sie.
Laura Hindersten ließ erneut ihr trockenes Lachen hören.
„Er hat also letzten Freitag das Haus verlassen. Hat er Ihnen etwas über seine Pläne für diesen Tag gesagt?“
„Leider nicht. Wie gesagt, als ich von der Arbeit nach Hause kam, war er verschwunden. Kein Zettel auf dem Küchentisch, keine Eintragung in seinem Kalender, ich habe nachgeschaut.“
„Deutet etwas darauf hin, daß er eine Tasche gepackt oder Sachen mitgenommen hat?“
„Nein, soweit ich es beurteilen kann, nicht.“
„Sein Paß?“
„Liegt noch in seinem Schreibtisch.“
„Ihr Vater ist siebzig Jahre alt. Gibt es irgendwelche Anzeichen von geistigerVerwirrung bei ihm, daß er …?“
„Falls Sie andeuten wollen, daß er senil oder verrückt geworden ist, irren Sie sich gründlich. Sein Intellekt ist ungebrochen.“
„Das hört man natürlich gern“, sagte Åsa Lantz-Andersson. „Geht er regelmäßig spazieren, und wenn ja, wo? Der Stadtwald liegt nicht weit weg.“
„Er geht überhaupt nicht spazieren.“
„Gibt es irgendwelche Zwistigkeiten in der Familie? Haben Sie sich vielleicht gestritten?“
Laura Hindersten saß ganz still, blickte für einen Moment zu Boden, und Åsa Lantz-Andersson glaubte zu hören, daß sie etwas vor sich hin murmelte, ehe sie von neuem aufsah. Laura Hinderstens Stimme war jetzt eiskalt. Sie versuchte erst gar nicht mehr, kooperativ zu klingen.
„Wir haben uns sehr nahegestanden, falls Sie in der Lage sein sollten, sich das vorzustellen.“
„Warum sollte ich nicht?“
„Ihre Arbeit dürfte nicht besonders erbaulich sein.“
„Ja, da haben Sie vollkommen recht“, erwiderte Åsa Lantz-Andersson lächelnd. „Es ist eine deprimierende und banale Beschäftigung, aber wir werden natürlich alles tun, was in unserer Macht steht, um Ihren Vater zu finden.“ Sie legte ihre Notizen zusammen, wartete einen Moment und stand dann auf. „Vielen Dank“, sagte sie und streckte die Hand aus.
Laura Hindersten blieb sitzen.
„Wollen Sie nicht …?“
„Vielen Dank“, wiederholte Åsa Lantz-Andersson, „wie gesagt, wir tun, was wir können.“
„Vielleicht ist er ja ermordet worden.“
„Wie kommen Sie darauf?“
Laura Hindersten erhob sich. Ihr schmaler Körper wirkte zerbrechlich. Sie schwankte einen Moment. Lantz-Andersson streckte helfend ihre Hand aus. Das aufgeblasene Benehmen ist nur eine Maske, dachte sie und hatte auf einmal ein schlechtes Gewissen und Mitleid mit der Frau.
Laura Hindersten war fünfunddreißig, wirkte jedoch älter. Vielleicht lag es an ihrer Kleidung, einem grauen Rock und einer altfränkischen, beigen und halblangen Jacke, denn ihr Gesicht war noch das einer jungen Frau. Es gab keine grauen Strähnen in den kräftigen dunklen Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, im Gegenteil, Åsa Lantz-Andersson sah durchaus neidisch, daß die Haare der Frau glänzten.
Das schmale Gesicht war blaß. Die etwas zu großen Schneidezähne ließen einen an ein Nagetier denken, vor allem wenn sie lachte, aber viele würden sicher der Meinung sein, daß Laura Hindersten eine attraktive Frau war. Sie hatte hellblaue Augen unter kräftigen, dunklen Augenbrauen und glatte Haut; die zierlichen Ohren, die eng am Kopf anlagen, waren klassisch gerundet und ähnelten kleinen Schnecken.
Das Foto ihres Vaters, ein paar Jahre alt, lag auf dem Schreibtisch und verriet, daß Laura einige seiner Gesichtszüge geerbt hatte.
„Eine Frage noch: Gab es eine Frau, die Ihrem Vater nahestand?“
Laura schüttelte den Kopf und verließ wortlos den Raum.
Åsa Lantz-Andersson war überzeugt, daß man den Mann nicht lebend wiederfinden würde. Drei Tage waren seit seinem Verschwinden verstrichen. Nach vierundzwanzig
Stunden konnte man noch optimistisch sein, nach zwei Tagen standen die Chancen fünfzig zu fünfzig, aber Ende September gab es nach drei Tagen erfahrungsgemäß kaum mehr Hoffnung.
Åsa Lantz-Andersson versuchte neue Möglichkeiten zu überdenken, kam jedoch rasch zu dem Schluß, es gab keine. Sie waren alle möglichen Erklärungen durchgegangen. Bereits am Samstag war die gesamte Nachbarschaft der Hinderstens befragt worden. Ein Suchtrupp hatte erfolglos den nahe gelegenen Stadtwald durchforstet. Das einzige, was man bei der Aktion gefunden hatte, versteckt unter einer Tanne, war Diebesgut von einem Einbruch am Sveavägen gewesen.
Universitätsdozent Ulrik Hindersten war wie vom Erdboden verschluckt. Er war von niemandem und nirgends gesehen worden, weder von den Nachbarn noch in den wenigen umliegenden Kiosken oder Geschäften.
Am Institut für Literaturwissenschaft, an dem Hindersten früher tätig gewesen war, das er mittlerweile jedoch nur noch etwa einmal im Monat besuchte, zeigte man sich wenig bestürzt über sein Verschwinden. Åsa Lantz-Andersson hatte mit einem seiner ehemaligen Kollegen gesprochen, der keinen Hehl daraus gemacht hatte, daß er den pensionierten Universitätsdozenten verabscheute.
„Er war eine richtige Nervensäge“, hatte er seine Ansichten zusammengefaßt.
Die Befragung der Nachbarschaft hatte sie auch nicht weitergebracht. Im Grunde schien kein Mensch den verschwundenen alten Mann zu vermissen.
„Der Alte hat sich bestimmt in seinem eigenen Garten verlaufen“, meinte der direkte Nachbar leichthin.
Der Mann war Professor in einem Fach, von dem Lantz-Andersson noch nie gehört hatte, aber es ging dabei irgendwie um Physik, soviel hatte sie immerhin verstanden.
Sie las sich ihre Notizen noch einmal durch. Ulrik Hindersten war seit gut zwanzig Jahren Witwer und lebte seither allein mit seiner Tochter. Weder Ulrik noch Laura Hindersten waren polizeilich aktenkundig oder wegen Zahlungsversäumnissen beim Gerichtsvollzieher gemeldet.
Soweit es sich beurteilen ließ, stand ihr Haushalt auf soliden Füßen. Ulrik bezog eine recht komfortable Pension, und Lauras Arbeit brachte ihr einen Monatslohn von über dreißigtausend Kronen ein. Das Haus war seit Jahren abbezahlt.
Åsa Lantz-Andersson ging von drei möglichen Erklärungen aus: Ulrik Hindersten hatte entweder Selbstmord begangen oder sich verirrt und war an Erschöpfung oder einer Krankheit gestorben, oder aber jemand hatte ihn, eventuell bei einem Raubüberfall, umgebracht.
Hätte sie auf eine der drei Möglichkeiten tippen müssen, wäre ihr die zweite am wahrscheinlichsten erschienen. Sie schloß die Akte in dem Gefühl, daß es noch eine ganze Weile dauern konnte, bis sie erfuhr, ob sie richtig getippt hatte.
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Literaturangabe:
ERIKSSON, KJELL: Die grausamen Sterne der Nacht. Aus dem Schwedischen
von Paul Berf. dtv, München 2009. 400 S., 8,95 €.
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