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Die Grenzen der seelischen Möglichkeiten

Der Roman „Aminas Briefe“ von Jonas T. Bengtsson

© Die Berliner Literaturkritik, 02.10.08

 

STUTTGART (BLK) – Im August 2008 ist der Roman „Aminas Briefe“ von Jonas T. Bengtsson im Tropen Verlag erschienen.

Klappentext: In „Aminas Briefe“ erzählt Jonas T. Bengtsson, der erfolgreichste dänische Autor seiner Generation, die ergreifende Geschichte einer außerordentlichen Liebe zwischen den Welten. Mit seiner präzisen und eindringlichen Prosa gelingt es Bengtsson, dem Leser ungewöhnliche Figuren nahezubringen, als wären es gute Freunde. Viele Jahre waren für den schizophrenen Janus, der zu Beginn des Romans aus einer psychiatrischen Anstalt entlassen wird, die Briefe seiner kurdischen Klassenkameradin Amina die einzige Verbindung zur Außenwelt. Doch eines Tages bricht der Kontakt ab. Er erfährt, dass seine Freundin mit einem gewalttätigen Kurden verheiratet ist. Und so macht sich Janus auf den Weg. Die Reise führt ihn an die Grenzen seiner Kultur, seines Verstehens und seiner seelischen Möglichkeiten, konfrontiert ihn mit Konflikten und Gewalt.

Jonas T. Bengtsson, geboren 1976, lebt in Kopenhagen. 2005 wurde er mit dem Dänischen Debütantenpreis für „Aminas Briefe“ ausgezeichnet, 2007 ist sein zweiter Roman „Submarino“ erschienen, der 2008 von Thomas Vinterberg („Das Fest“) verfilmt wird. (bah)

Leseprobe:

© Tropen Verlag ©

Ich stehe auf dem Bett und sehe nach unten auf die Briefe. Habe sie auf dem Boden ausgebreitet, jeweils mit einer Handbreit Platz dazwischen. 53 Briefe, ein paar Postkarten. Ich habe mir das genau so vorgestellt. Wollte mir einen Überblick verschaffen. Das Schlafzimmer meines Bruders ist so durchgestylt wie die ganze Wohnung. Hellgraue Wände, ein großer Eichenschrank mit Türen aus sandgestrahltem Glas und ein derartig straffbezogenes Bett, wie man es sonst nur in Hotels findet.

Ich sehe nach unten auf die Briefe, die Briefe aus drei Jahren, Aminas Briefe. Sie hat nicht jede Woche geschrieben. Manchmal schon, aber meistens vergingen 14 Tage oder ein ganzer Monat, je nachdem, wie viel sie mit dem Studium oder sonst zu tun hatte. Wenn es lange dauerte, schrieb sie mir immer, warum. Ich habe ihr auch geschrieben, aber nicht so oft. Es gab aus der Klinik nicht so viel zu erzählen, außerdem war es nicht leicht, Ruhe zum Schreiben zu finden. Häufig schaffte ich es nicht, einen Brief zu beantworten, bevor der nächste kam. Und sie kamen, darauf konnte ich mich verlassen. Blieb mal eine Woche einer aus, kam er in der folgenden Woche oder spätestens die Woche drauf, aber sie kamen, immer.

Es ist jetzt über ein halbes Jahr her, dass ich den letzten Brief von Amina erhalten habe. Seither habe ich ihre Briefe wieder und wieder gelesen, habe darauf geachtet, ob sich ihre Handschrift verändert hat, ob ihre Worte neue Sätze bilden, wenn man sie von oben nach unten oder von unten nach oben liest. Nach Andeutungen gesucht, nach Bemerkungen. Aber ich habe nichts gefunden. Keine Erklärung, warum sie aufgehört hat zu schreiben.

Auf der Station hatte ich gehofft, etwas erkennen zu können, wenn ich mir in aller Ruhe einen vollständigen Überblick verschaffte. Ohne Stress und die ständige Angst, dass plötzlich ein Pfleger in der Tür auftauchte.

Ich steige vom Bett und gehe zu der Reihe Briefe, die unmittelbar vor dem Fenster liegt. Sie stammen aus dem ersten Sommer, in dem wir uns geschrieben haben. Ich hebe einen vom Boden auf und beginne irgendwo.

Ich hoffe, es geht Dir gut – na ja, gut, so toll läuft es gerade nicht, aber Du kapierst schon, wie ich das meine. Sie haben Dich doch wohl nicht wieder in diese Zwangsjacke gesteckt? Ich weiß, dass das nicht lustig ist, dass ich keine Ahnung habe, wie man sich darin fühlt, aber trotzdem musste ich laut lachen, als ich Deinen Brief las. Meine Schwester steckte ihren Kopf ins Zimmer und fragte, was los sei, weil ich so lachte. Ich finde es unglaublich, wie Du darüber schreiben kannst. Ich musste ihr von den Briefen erzählen. Am Anfang habe ich noch gesagt, meine Freundin Sofie hätte mir geschrieben, aber das hat sie mir nicht abgekauft. Sie hat mich richtig ausgefragt. Heh, du, wer soll denn Sofie sein? Ich kenne keine Sofie. Und warum ruft diese Sofie nie an, warum bringst du sie nicht mal mit nach Hause? Diese Sofie hat doch wohl keinen cük (das ist das türkische Wort für etwas, das Männer haben) ... Dann musste ich ihr von Dir erzählen, beziehungsweise von unseren Briefen. Weißt Du, was sie gesagt hat? Du bist keine Dänin, vergiss das nicht, du bist keine Dänin, und dann hat sie die Augenbrauen hochgezogen und sah genauso aus wie unsere Mutter. Aber sie ist in Ordnung, sie wird niemandem etwas sagen. Außerdem glaube ich, dass sie ein bisschen neidisch ist. Sie würde auch gern jemandem schreiben. Ansonsten war es in letzter Zeit nicht gerade lustig. Ich hatte ja gehofft, Dir diesen Brief hier aus einem Liegestuhl am Schwarzen Meer schreiben zu können. Aber mein Vater hat noch immer keine Arbeit gefunden, und so mussten wir den Urlaub ausfallen lassen. Er ist ziemlich verbittert, und ich verstehe ihn gut, er hat fast zehn Jahre in diesem Lager für Computerteile gearbeitet, und dann verlegen die es einfach nach Schweden.

Sofie. Damals, in jenem Jahr, verwendete ich den Namen Sofie als Absender. Aminas Eltern sind Kurden. Sie hat immer nur gut über sie geschrieben. Obwohl sie gesagt hat, sie seien ziemlich altmodisch und dass es ihrer Mutter gar nicht gefallen würde, wenn sie einem Mann schriebe. Und die Tatsache, dass ich in der Geschlossenen vollkommen stillgelegt sei, mache die Sache auch nicht besser. Als Amina mit ihrem Studium anfing, besorgte sie sich ein Postfach. Sie war es leid, dass ihre Mutter die Briefe öffnete und sie jedes Mal ausfragte, wenn ein Brief von der Uni kam, von einem männlichen Absender. Ihre Mutter verstand nicht sonderlich gut Dänisch und war der Meinung, das Wort „Tutor“ bedeute etwas Anrüchiges.

Ich nehme mir einen zweiten Brief aus der gleichen Reihe. Der gleiche Sommer.

Meine Mutter kann verdammt gut kochen, wirklich, wirklich gut. Aber im Moment hat sie keine Zeit dazu, sie musste einen Putzjob in einem Büro annehmen und kommt erst spät nach Hause. Deshalb müssen sich jetzt Gülden und ich um das Essen kümmern. Und das ist echt keine gute Idee, aber was sollen wir machen … Wir stehen in der Küche, vor uns überall diese Kräuter in kleinen Döschen ohne jede Aufschrift. Meine Mutter weiß natürlich, was da drin ist, sie braucht keine Etiketten. Und Rezepte gibt es natürlich auch nicht. Sie hat alles im Kopf. Hat das als Kind von ihrer Mutter gelernt, als sie zusammen am Herd standen. Wie viel Kräuter … wie viel Joghurt … Als Gülden und ich klein waren, haben wir immer unten im Hof gespielt, wenn Mutter gekocht hat. Und wenn sie uns gerufen hat, damit wir ihr helfen, haben wir immer behauptet, ganz dringend Hausaufgaben machen zu müssen, und sind in unserem Zimmer verschwunden. Meine Mutter war stinksauer, aber mein Vater sagte dann immer: Wenn sie Hausaufgaben machen müssen, dann müssen sie eben Hausaufgaben machen. Ich glaube wirklich, dass meine Schwester und ich nur deshalb die Schule geschafft haben, weil wir keine Lust zu kochen hatten. Dabei ist Gülden noch ein bisschen besser in der Küche als ich, ich glaube, sie hat mehr Talent. Ich kann gerade mal zwei Gerichte, die einigermaßen essbar sind. Mein Vater lacht immer darüber, er meint, es sei nur gut, dass seine Töchter hübsch seien, sonst würden sie ja nie einen Mann finden. Neulich haben wir versucht, ein Essen zu machen, das Imam Bayýldý heißt. Übersetzt bedeutet das, „der Imam verliert die Besinnung“, und meine Mutter sagt, dieser Name kommt daher, weil das Gericht so lecker ist. Als wir uns an den Tisch setzten, hat jedenfalls keiner die Besinnung verloren. Mein Vater trank anschließend noch zwei große Gläser Wasser, aber er hat kein Wort darüber verloren, dass es versalzen war.

Am nächsten Tag stand er mit uns zusammen am Herd. Er kocht auch nicht besser, hat meiner Mutter aber oft zugesehen, und er weiß, wie es schmecken muss. Ich glaube, ihm macht das richtig Spaß, aber sie schmeißt ihn immer aus der Küche, wenn er sich einmischt. Jetzt stehen wir also alle drei hier und versuchen, es so hinzubekommen wie Mama.

Ich habe den Brief so oft gelesen, und ich habe die Bilder noch immer glasklar vor Augen. Stehe mit ihr gemeinsam in der Küche. Neben den Töpfen, die Sauce brodelt, ich kann Tomaten und Knoblauch riechen, stehe neben Amina, die Schweiß auf der Stirn hat und sich eine Strähne hinter das Ohr klemmt. Amina und ihre Schwester haben ihren Spaß, bewerfen sich mit Peperonistielen, treffen aber nicht und lachen, und ich lache mit.

Wir haben die Anlage in die Küche gestellt und drehen die Musik voll auf, wenn wir kochen. Und natürlich streiten wir darüber, was wir hören. Meine Schwester will Tarkan oder Mirkelam oder vielleicht Sertab Erener hören und ich am liebsten Fuat Saka. Und dann stehen wir da und schreien uns an und lachen, und sie sagt, Saka sei grässlich, sie könne seinen Dialekt vom Schwarzen Meer einfach nicht ertragen und dass ich alleine kochen müsse, wenn ich wirklich diesen alten Scheiß hören wolle. Immer wenn Vater uns in der Küche geholfen hat, konnte ich mich durchsetzen. Nicht weil ich eine Arschkriecherin bin, sondern weil Vater Tarkan nicht mag. Als kleiner Junge, sagte er, hätten sie ein Wort gehabt für Männer mit Makeup, aber das wollte er vor uns nicht laut aussprechen. Okay, ich weiß ja, dass dir diese Namen nichts sagen, Janus, aber Saka macht wirklich ziemlich spezielle Musik. Er benutzt die alten Instrumente vom Schwarzen Meer, und irgendwie macht es mich immer glücklich, seine Musik zu hören.

Ich lese Bruchstücke anderer Briefe. Weiß nicht, wonach ich suche, kann aber nicht damit aufhören.

Nach ein paar Stunden habe ich Kopfschmerzen, mein Schädel dröhnt von all den Sätzen. Außerdem bin ich es nicht gewohnt zu denken. Im Gefrierschrank finde ich ein teures Fertiggericht, Tagliatelle al salmone, das ich mir in der Mikrowelle aufwärme.

Dann gehe ich zurück zu den Briefen. Nach ein paar weiteren Stunden packe ich sie zusammen, nehme eine Schlaftablette und lege mich hin.

Auch mit Pillen kann ich kaum schlafen. Weit, weit entfernt höre ich das leise Rauschen der Autos, doch ansonsten ist es hier oben unter dem Himmel vollkommen still. Keine knallenden Türen, keine Pfleger, die redend vor meinem Zimmer über den Flur laufen. Niemand, der laut schreit, und keine neue Patienten, die fixiert werden müssen. Es ist viel zu still hier. Ich denke an Amina. Wie sie jetzt wohl aussieht? Das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe, liegt lange zurück, viele Jahre. Ich denke an die Klinik, an all die Menschen, von denen ich mich verabschiedet habe.

Thomas hat geheult, als ich ihm gesagt habe, ich werde möglicherweise entlassen. Er war da drinnen wohl mein bester Freund, auf jeden Fall derjenige, mit dem ich am meisten gemeinsam habe. Er ist in meinem Alter, während die anderen eher älter sind, abgesehen von den ganz Jungen mit ihren üblen Haschpsychosen. Wie ich kam Thomas direkt vom Gymnasium. Dabei hat es ihm da eigentlich gefallen, aber als die Schule endlich genug Geld beisammenhatte, um eine junge Birke auf den Parkplatz vor dem Schulgebäude zu pflanzen, konnte er nicht mehr. An diesem Baum war er einfach nicht vorbeigekommen. Thomas hat ein Problem mit der Natur. Besonders mit Bäumen. Sein schlimmster Alptraum ist es, mitten in einem Wald zu stehen. Dabei war er nicht immer so. Als Kind hat er sich zwar auch nicht sonderlich für Pflanzen und Grün interessiert, aber mit den Jahren ist da etwas in ihm herangewachsen. Die Birke auf dem Parkplatz hat ihm den Verstand geraubt und alle Sinne benebelt. Als ich ihn kennenlernte, stank er immer sauer nach Schweiß, weil er nur Sachen aus Polyester trug. Sie hatten versucht, ihn zu behandeln. Mit ihm über seine Probleme gesprochen, die unterschiedlichsten Medikamente ausprobiert, es mit Hypnose versucht. Zu guter Letzt haben sie aufgegeben und ihm ein Zimmer eingerichtet, in dem alles aus Plastik oder Nylon war. Tisch, Stühle, Bett und Bettzeug, alles aus Kunststoff. Er verlässt sein Zimmer selten, nur wenn es irgendwelche gemeinsamen Anlässe gibt, nimmt er all seinen Mut zusammen. Wie etwa Weihnachten, da saß er so weit entfernt wie nur möglich mit dem Rücken zum Weihnachtsbaum und knetete unablässig seine Hände, wie ein Verrückter. Als die Fotokopien mit den Weihnachtsliedern ausgeteilt wurden und wir um den Baum tanzen sollten, war er schon wieder weg.

Nicht jede Art von Natur wirkt gleich stark auf Thomas. Es gibt verschiedene Schattierungen der Angst. Das Bild einer Pflanze in einer Zeitschrift macht ihn unruhig, während ihn ein Riss in der Laminatauflage eines Tisches zum Weinen bringen kann, weil er das Sperrholz darunter sieht.

Thomas weiß sehr gut, dass er eine merkwürdige Krankheit hat.

„Mann, du kannst doch nicht Angst vor einem Baum haben!“

„Ich weiß, aber … Verdammt, ich hasse das, verdammt … kann das nicht ertragen.“

Thomas kann über seine Krankheit reden und alle zum Lachen bringen. Er weiß ganz genau, was er betonen muss, wenn er erzählt, wie er einmal in der Gemüseabteilung des Supermarktes ausgeflippt ist. Aber hat man ihn erst bei einem Anfall erlebt, vergeht einem das Lachen. Thomas ist einer der wenigen aus der Klinik, die ich vermissen werde.

© Tropen Verlag ©

Literaturangaben:
BENGTSSON, JONAS T.: Aminas Briefe. Roman. Übersetzt aus dem Dänischen von Günther Frauenlob. Tropen Verlag, Stuttgart 2008. 239 S., 22,90 €.

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