MÜNCHEN (BLK) – Im August 2010 ist „Die Grosse Zukunft des Buches“ im Hanser Verlag erschienen. Ein Gespräch zwischen Jean-Claude Carriere und Umberto Eco, übersetzt von Barbara Kleiner.
Klappentext: Das Buch: Die größte Erfindung der Menschheit. Zu diesem Schluss kommen Umberto Eco und Jean-Claude Carrière, Autoren aus Italien und Frankreich, die zusammenkamen, um sich über die Zukunft des Buches zu unterhalten. In einer rasanten Reise durch die Zeit, von der Papyrusrolle über Gutenberg bis zum E-Book sprechen sie über die Faszination von Bibliotheken, welche Bücher sie vor dem Feuer retten würden, und über die Frage, ob es Sinn macht, „Krieg und Frieden“ als E-Book zu lesen. Die originellen, unterhaltsamen und höchst informativen Anekdoten der beiden Passionierten sind ein Muss für alle, die das Buch als Gegenstand lieben.
Jean-Claude Carrière, 1931 geboren, ist einer der bedeutendsten französischen Drehbuchautoren und Schriftsteller. Er arbeitete u. a. mit Jacques Tati, Luis Buñuel, Louis Malle, Volker Schlöndorff und Jean-Luc Godard. Seit 1986 ist er Präsident von „La fémis“ (Hochschule für Film und Audiovision, Paris).
Umberto Eco, 1932 in Alessandria geboren, lehrt als Professor für Semiotik an der Universität Bologna und gelangte durch Der Name der Rose zu Weltruhm. Sein Werk erscheint seit vielen Jahren bei Hanser, zuletzt u.a. Baudolino (2001), Die Kunst des Bücherliebens (2009) und die Bildbände Die Geschichte der Schönheit (2004), Die Geschichte der Häßlichkeit (2007) und Die unendliche Liste (2009).
Leseprobe:
©Hanser Verlag©
Bücher, die unbedingt zu uns gelangen wollen
J.-P.DET.: Einigen Büchern haben Sie, scheint es, mit großer Beharrlichkeit nachgestellt. Um das Werk eines Autors zu vervollständigen oder um Ihre thematischen Schwerpunkte zu komplettieren. Einfach aus Liebe zum schönen Objekt oder zu dem, was ein bestimmtes Buch für Sie zu symbolisieren vermag. Gibt es über diese minutiöse Detektivarbeit Geschichten, an denen Sie uns teilhaben lassen möchten?
J.-C.C.: Zu diesem Thema kann ich Ihnen von einem Besuch bei der Direktorin des Nationalarchivs vor etwa zehn Jahren erzählen. Man muss wissen, dass aus diesem Archiv in Frankreich, und wie ich denke, in allen Ländern, die ein solches besitzen, jeden Tag per Lastwagen ein Haufen altes Papier abtransportiert wird, das man beschlossen hat zu vernichten. Denn man muss ja Platz schaffen für das, was jeden Tag neu in die Archive kommt. Man muss vernichten, auch hier muss man filtern, das ist der Lauf der Welt.
Bevor der Lastwagen die Lieferung abholen kommt, lässt man gelegentlich die „Papierkramer“ herein, Liebhaber alter Dokumente, Notariatsakten, Heiratsurkunden, die kommen und sich unentgeltlich bei dem bedienen, was zur Vernichtung bestimmt ist. Die Direktorin erzählte mir, wie sie eines Tages in ihr Büro kam und in den Hof des Gebäudes eintreten wollte, als sie den Lastwagen herauskommen sah, der dicht an ihr vorbeifuhr. Das vermittelt eine Idee von dem, was ich immer gern das „geübte Auge“ nenne. Das Auge, das gelernt hat zu sehen, das nur auf diese eine Sache gewartet hat. Sie trat also beiseite, um den Lastwagen passieren zu lassen, und dabei sah sie aus einem großen Packen ein Stück gelbliches Papier herausragen. Auf der Stelle ließ sie den Lastwagen anhalten, die Verschnürung öffnen, den fraglichen Ballen auseinandernehmen und stieß auf eins der seltenen bekannten Plakate des Illustre-Théatre von Molière aus der Zeit, als er noch in der Provinz arbeitete! Wie das Plakat dorthin gelangt war? Und warum man es zur Einäscherung schickte? Wie viele kostbare Dokumente und seltene Bücher sind nicht der Zerstörung anheimgegeben worden, einfach aus Zerstreutheit, aus Versehen, aus Nachlässigkeit? Nachlässigkeit hat vielleicht insgesamt mehr Schaden angerichtet als eigentliche Zerstörungswut.
U.E.: Tatsächlich muss ein Sammler das geübte Auge besitzen, von dem Sie sprechen. Vor einigen Monaten war ich in Granada, und nachdem ich die Alhambra und all die Dinge gesehen hatte, die ich sehen musste, führte ein Freund mich auf meine Bitte hin zu einem Buchantiquar, um dessen Regale in Augenschein zu nehmen. Es herrschte da eine eher unübliche Unordnung, und ich stöberte ohne großen Erfolg in einem Haufen spanischer Bücher herum, die für mich ohne jedes Interesse waren, als mein Blick plötzlich von zwei Werken angezogen wurde, und ich bat, sie mir herauszuholen. Ich war auf zwei spanische Werke zur Mnemotechnik gestoßen. Eines habe ich bezahlt, das andere hat der Händler mir zum Geschenk gemacht. Sie könnten nun sagen, das sei ein Glücksfall gewesen und es hätte bei dem Buchhändler vielleicht noch weitere Schätze gegeben. Ich bin mir sicher, dass dem nicht so war. Das ist so etwas wie die Witterung beim Jagdhund, was Sie direkt auf die Beute losgehen lässt.
J.-C.C.: Gelegentlich begleite ich meinen Freund Gérard Oberlé, der ein ziemlich bekannter Buchhändler und ausgezeichneter Schriftsteller ist, zu den Bouquinisten. Er betritt ein Geschäft und mustert lang und ausgiebig die Regale, schweigend. Irgendwann geht er gezielt auf DAS BUCH zu, das ihn erwartet hat. Es ist das einzige, das er anfasst, und das einzige, das er nimmt. Beim letzten Mal war es der Text, den Beckett über Proust verfasst hat, der in der Erstausgabe schwer zu finden ist. Ich kenne auch in der Rue de l’Université einen ausgezeichneten Buchhändler, der auf Bücher zu naturwissenschaftlichen Themen spezialisiert ist. In meiner Studentenzeit ließ er mich und meine Freunde in den Laden, obwohl er sehr wohl wusste, dass wir ihm nichts abkaufen konnten. Aber er redete mit uns, er zeigte uns schöne Dinge. Er ist einer von den Menschen, die meinen Geschmack geformt haben. Er wohnte in der Rue du Bac, auf der anderen Seite des Boulevard Saint Germain. Eines Abends geht er nach Hause, überquert den Boulevard, und auf seinem Weg bemerkt er, dass aus einer Mülltonne ein Messingteil heraussteht, welches seinen Blick anzieht. Er bleibt stehen, macht den Deckel auf, durchsucht die Mülltonne und holt eine der zwölf, von Pascal selbst gebauten Rechenmaschinen heraus. Ein unschätzbares Stück. Heute steht sie im CNAM, dem Conservatoire nationale des arts et metiers (Nationales Handwerksmuseum). Wer hatte sie weggeworfen? Und welche Koinzidenz, dass dieses geübte Auge just an diesem Abend dort vorbeikam!
U.E.: Als ich vorhin an meine Entdeckung bei dem Buchhändler von Granada erinnerte, habe ich natürlich Spaß gemacht. Ganz einfach, weil ich, um ehrlich zu sein, überhaupt nicht sicher bin, ob es bei ihm nicht noch ein drittes Werk gab, das mich ebenso begeistert hätte wie die anderen beiden. Vielleicht ist Ihr Buchhändler-Freund ja dreimal an dem Objekt, das ihm Zeichen machte, vorbeigelaufen, ohne es zu sehen, und hat die Pascalsche Maschine erst beim vierten Mal bemerkt.
J.-C.C.: Es gibt im Katalanischen einen Grundlagentext, ein erstes Dokument in dieser Sprache aus dem 13. Jahrhundert. Dieses Manuskript, das nur zwei Seiten umfasst, ist seit langem verschollen, es gibt aber eine gedruckte Version davon aus dem 15. Jahrhundert. Eine äußerst seltene Inkunabel also. Für einen katalanischen Buchliebhaber ist das natürlich die kostbarste Inkunabel der Welt. Zufällig kenne ich in Barcelona einen Buchhändler, der nach Jahren der Nachforschungen, wie ein Detektiv hartnäckig halb verwischten Spuren nachgehend, die kostbare Inkunabel schließlich ausfindig machen konnte. Er hat sie gekauft und an die Bibliothek von Barcelona weiterverkauft. Zu einem Preis, den er mir nie genannt hat, der aber ziemlich beachtlich gewesen sein muss.
Einige Jahre vergingen. Derselbe Buchhändler kauft eines Tages einen großen Folioband aus dem 18. Jahrhundert, bei dem der Einband, wie das häufiger vorkommt, mit altem Papier vollgestopft ist. Er tut also, was man in derlei Fällen macht, er schlitzt den Einband behutsam mit einer Rasier- klinge auf, um die alten Papiere herauszunehmen. Und unter diesen findet er das Manuskript aus dem 13. Jahrhundert, das lange für verschollen gegolten hatte. Das Manuskript selbst, das Original. Er glaubte, in Ohnmacht zu fallen. Der eigentliche Schatz selbst. Der ihn da erwartete. Jemand hatte das Dokument aus purer Unkenntnis dort hineingesteckt.
U.E.: Quaritch, der bedeutendste Buchantiquar Englands, vielleicht der Welt, hat einmal eine ganze Ausstellung nur mit Manuskripten veranstaltet, die in Einbänden gefunden worden waren, samt dazugehörigem Katalog. Da fand sich sogar die minutiöse Beschreibung eines Manuskripts, das den Brand der Bibliothek in „Der Name der Rose“ überstanden hatte, ein Manuskript, das natürlich frei erfunden war. Mir ist das aufgefallen (man brauchte nur die Maße zu überprüfen, um festzustellen, dass es so groß war wie eine Briefmarke), und so sind wir Freunde geworden. Aber viele Leute glaubten, es handle sich um ein echtes Dokument.
J.-C.C.: Halten Sie es für möglich, dass noch eine Tragödie von Sophokles gefunden wird?
U.E.: Bei uns in Italien gab es kürzlich einen großen Streit, der alle sehr erregt hat, um den Papyrus des Artemidor, den die Fondazione bancaria San Paolo in Turin zu einem beachtlichen Preis erworben hat. Die beiden größten Spezialisten Italiens befehdeten sich: Ist dieser dem griechischen Geographen Artemidor zugeschriebene Text echt oder eine Fälschung? Jeden Tag fand man in der Presse die lautstarke Stellungnahme eines neuen Fachmannes, der die Meinung vom Vortag bestätigte oder widerlegte. Das als Beleg dafür, dass hier und da immer wieder mehr oder weniger reiche Schätze aus der Vergangenheit auftauchen. Es ist erst fünfzig Jahre her, dass die Manuskripte vom Toten Meer gefunden wurden. Ich glaube, die Wahrscheinlichkeit, auf solche Dokumente zu stoßen, ist heutzutage größer, es wird mehr gebaut, mehr Erdreich bewegt. Heute ist die Wahrscheinlichkeit, ein Manuskript von Sophokles zu finden, größer als zur Zeit Schliemanns.
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Literaturangabe:
Carriere, Jean-Claude & Eco, Umberto: Die grosse Zukunft des Buches. Übersetzt von Barbara Kleiner. Hanser Verlag, München 2010. 288 S,. 19,90 €.
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