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Die Hoffnung stirbt zuletzt

Jim Thompsons Debütroman aus dem Jahr 1942 jetzt auch auf deutsch

© Die Berliner Literaturkritik, 08.08.11

MÜNCHEN (BLK) – Im Heyne Verlag ist im August 2011 der Roman „Jetzt und auf Erden“ von Jim Thompson als Taschenbuch erschienen. Er wurde von Peter Torberg aus dem Amerikanischen übersetzt.

Klappentext: Wie viel kann ein Mensch einstecken? Ein Roman wie kein zweiter! Thompsons frühe autobiografische Tour de Force durch das Leben einer Unterschichtfamilie während der 1940er Jahre ist ein knallharter Trip durch die höllischen Abgründe der Armut. Sein Held, der Autor James „Dilly“ Dillon, kämpft mit dem Alkohol, einer Schreibblockade und einem frustrierenden Job in der Flugzeugfabrik. Ein tödlicher Kreislauf, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Jim Thompson wurde 1906 in Anadarko, Oklahoma, als James Myers Thompson geboren. Er begann früh zu trinken und schlug sich als Glücksspieler, Sprengstoffexperte, Ölarbeiter und Alkoholschmuggler durch. Obwohl er mit bereits 15 Jahren seine erste Kriminalgeschichte verkauft hatte, konnte er erst seit Beginn der fünfziger Jahre vom Schreiben leben. Für Hollywood verfasste er zahlreiche Drehbücher, u.a. für so namhafte Regisseure wie Stanley Kubrick. Thompson gilt als zentraler Vertreter des Noir-Genres. Er starb 1977 in Los Angeles, seine Asche wurde im Pazifischen Ozean verstreut.

Leseprobe:

©Heyne©

1.

Meine Schicht war um halb vier zu Ende, aber ich brauchte fast eine Stunde für den Heimweg. Von der Fabrik bis zum Pacific Boulevard ist es eine Meile, und von dort bis zu uns eine weitere Meile den Hügel hinauf. Den Berg, sollte ich besser sagen. Wie sie es geschafft haben, den Beton für diese Bergstraßen zu gießen, ist mir ein Rätsel. Wenn du diese Straßen hinaufgehst, kannst du dir die Schuhe zubinden, ohne dich zu bücken.

  Jo war auf der anderen Straßenseite und spielte mit der kleinen Pfarrerstochter. Sie wartete auf mich, nehme ich an. Sie kam über die Straße zu mir gerannt, und ihre korngelben Locken hüpften ihr um das rosige Gesicht. Sie umklammerte meine Knie und küsste mir die Hand – ich mag das zwar nicht, kann sie aber nicht daran hindern.

  Sie fragte mich, ob mir meine neue Arbeit gefalle und wie viel ich verdienen würde und wann denn Zahltag sei – alles in einem Atemzug. Ich bat sie, in der Öffentlichkeit nicht so laut darüber zu reden, dass ich nicht so viel verdiente wie bei der Stiftung, und sagte, dass vermutlich Freitag Zahltag sei.

  „Krieg ich dann einen neuen Hut?“

  „Vielleicht. Wenn deine Mutter einverstanden ist.“

  Jo runzelte die Stirn. „Mutter wird das nicht wollen. Das weiß ich. Sie ist mit Mack und Shannon in die Stadt gefahren, um ihnen neue Schuhe zu kaufen, aber mir will sie ’nen Hut nicht kaufen.“

  „›’nen Hut nicht?‹“

  „Keinen Hut, meine ich.“

  „Woher hat sie denn das Geld, um einzukaufen? Hat sie die Miete nicht bezahlt?“

  „Ich glaub nicht.“

  „Verdammt nochmal!“, fluchte ich. „Und was zum Teufel machen wir jetzt? Was glotzt du so? Geh spielen. Geh weg. Geh mir aus den Augen. Na los!“

  Ich streckte die Hände aus, um sie zu schütteln, doch ich besann mich und umarmte sie stattdessen. Ich kann es nicht leiden, wenn jemand unfreundlich zu Kindern ist – zu Kindern, Hunden oder alten Leuten. Ich weiß nicht, was in mich gefahren war, dass ich Jo schütteln wollte. Ich weiß es nicht.

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  „Ach, schon gut, Kleines“, sagte ich. „Du weißt doch, ich meine das nicht so.“

  Jo lächelte. „Du bist nur müde, das ist alles“, beruhigte sie mich. „Geh rein und leg dich hin, dann geht’s dir wieder besser.“

  Ich sagte, das würde ich machen, und sie küsste mir wieder die Hand und huschte über die Straße davon.

  Jo ist neun – mein ältestes Kind.

2.

Ich war müde, und alles tat mir weh. Die Lunge, die mir im Winter kollabiert war, fühlte sich an wie mit Melasse gefüllt, und meine Hämorrhoiden quälten mich.

  Ich ging ins Haus und rief, doch niemand antwortete, deshalb nahm ich an, dass Mom auch ausgeflogen war. Ich ging ins Bad und wusch mich, dann versuchte ich, etwas gegen meine Hämorrhoiden zu unternehmen, und wusch mich noch einmal. Es hatte keinen Zweck. Ich versuchte es erneut und wusch mich wieder. Dann fiel mir ein, dass ich dasselbe schon ein halbes Dutzend Mal getan hatte, also ließ ich es bleiben.

  Im Kühlschrank gab es ein paar Eiswürfel. Nichts außer Eiswürfeln, altem Stangensellerie, ein paar Grapefruits und einem Stück Butter. Aber das war ja schon mal was. Mom tut sich schwer damit, die Eisbehälter rauszunehmen, und wenn sie es macht, dann lässt sie sie meistens draußen stehen. Roberta füllt die Behälter nie mit Wasser auf. Sie holt sie raus, nimmt sich alle Eiswürfel und stellt die Behälter leer in den Kühlschrank zurück. Jo und ich sind so ungefähr die Einzigen im Haus, die die Behälter wieder auffüllen und zurückstellen. Wenn wir nicht wären, hätten wir nie Eis.

  Himmel, hör sich mal einer an, wie ich meckere! Und das wegen ein paar Eiswürfeln. Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist.

  Wie ich so dastand und trank, mich kratzte und über alles Mögliche nachdachte, kam Mom aus dem Schlafzimmer. Sie hatte geschlafen und war noch barfuß. Mom hat Krampfadern. Die hat sie schon, so lange ich denken kann. Moment – das stimmt nicht. Ihre Beine waren nie besonders gut, aber diese Krampfadern bekam sie erst, als ich neun war. Ich weiß noch, woher sie sie hat.

  Es war etwa eine Woche nach der Geburt von Frankie, meiner jüngeren Schwester. Pop war in Texas und versuchte, eine Ölquelle anzubohren. Wir hausten in einer Hütte weit draußen auf der West Main Street in Oklahoma City. Ein hartes Pflaster damals, und heute wahrscheinlich immer noch.

  Margaret – meine ältere Schwester – und ich schlugen uns irgendwie bei den Nachbarn mit durch, und Mom aß nicht viel. Blieb nur noch Frankie, um die sie sich kümmern musste. Aber die konnte ja noch nichts beißen; Mom war es nicht möglich, sie zu stillen, und wir hatten nur noch fünfzig Cent.

  Also, Margaret und ich gingen in den Drugstore, um ein Glas Malzmilchpulver zu kaufen, doch auf dem Rückweg verfolgte uns eine Bande von Rüpeln aus der Nachbarschaft, und Margaret ließ das Glas fallen. Es war ganz in festes braunes Papier gewickelt; dass es zerbrochen war, haben wir erst gemerkt, als Mom es auspackte.

  Nein, sie hat uns nicht beschimpft oder geschlagen – soweit ich mich erinnern kann, sind wir nie wirklich ver- hauen worden –, sie saß einfach da in ihren Kissen, und dann passierte etwas Schlimmes mit ihrem Gesicht. Dann legte sie sich eine ausgezehrte Hand vor die Augen, ihre Schultern zitterten, und sie weinte.

  Ich glaube, an dem Abend muss ein Maler durchs Fenster gelinst haben, denn Jahre später sah ich ein Ölbild von Mom. Das Bild einer Frau in einem zerschlissenen Kleid, mit wirren schwarzen Haaren und einer dürren Hand vor dem Gesicht, aber nicht, um es zu verbergen – Himmel, nein, sondern um auf etwas hinzuweisen – nicht in Worte zu fassendes Elend und Schmerz und Hoffnungslosigkeit. Das Bild hieß Verzweiflung.

  Der Maler hätte noch abwarten sollen, was dann geschah.

  Wir holten ein paar Zeitungen, breiteten sie auf dem Bett aus und schütteten das Pulver darauf. Dann machten Marge, ich und Mom uns daran, die Glassplitter herauszusuchen. Wir stocherten, sortierten und strengten über eine Stunde lang unsere Augen an, und als wir endlich ein paar Löffel Pulver beisammenhatten, wachte Frankie auf, wild um sich tretend wie meistens. Beinahe hätte sie alles vom Bett geschubst. Irgendwie schafften wir es, dass sich das Glas nicht wieder mit dem Pulver vermischte. Aber das nutzte alles nichts. Frankie hatte nur auf den entscheidenden Augenblick gewartet. Ihr Nachthemd war beim Strampeln hochgerutscht, und nun rutschte ihr die Windel runter …

  Na ja, wir warfen die Zeitungen fort und wischten auf – wir mussten alle lachen, so lustig war das –, und Mom fragte uns, was wir denn jetzt machen sollten. Marge, die zwölf war, meinte, sie könne ein Stück Kreide aus der Schule mit heimbringen, vielleicht könnten wir die ja zermahlen, mit heißem Wasser mischen und als Milch hernehmen.

  Mom befürchtete, das würde wohl nicht gehen.

  Ich selbst hatte keine Idee.

  Frankie brüllte sich derart die Seele aus dem Leib, dass wir alle Mitleid mit ihr hatten. „Also, wenn ich euch einen Zettel für Mr. Johnson schreibe, ob ihr dann wohl noch mal hingehen würdet und – „

  Marge und ich fingen an zu jammern und zu klagen. Die Jungs würden uns wieder jagen, wenn wir noch mal auftauchten, und wir würden auch das zweite Glas zerschmeißen; außerdem sei Mr. Johnson ein böser alter Mann und glaube sowieso niemandem was. Überall im Laden hingen Schilder, auf denen das zu lesen steht. „Geh selber hin und schau nach, Mom.“

  Tja, meinte Mom, das müsse sie dann wohl.

  Wir kramten ihr altes schwarzes Sergekleid hervor, dazu einen Schal und ein paar Hausschuhe, und Marge versuchte, Mom so gut es ging die Haare hochzustecken. Dann wickelten wir Frankie in eine Decke und marschierten los. Wir nahmen Frankie mit, weil Mom sie nicht allein lassen wollte, und Mom brauchte Marge und mich, um sich aufzustützen.

  Es war bitterkalt, und ich dachte, das sei der Grund, warum Mom so zitterte. Aber das war nicht alles. Es war der Schmerz in ihren Beinen, die immer schlimmer wurden. Der Laden war nur einen Block entfernt, aber wie ich schon sagte, ihre Beine waren nie besonders gut gewesen, sie hatte gerade erst Frankie zur Welt gebracht und schon seit Jahren nicht mehr richtig gegessen.

  Wir bekamen das Milchpulver. Johnson hätte es uns wohl nicht gegeben, wenn da nicht gerade eine Hure und ihr Lude im Laden gewesen wären – gute Kunden –, die Cola und Opiumtinktur mit Kampfer tranken und denen er wohl vorspielen wollte, wie gütig er war. Er legte sogar noch eine kleine Flasche Beruhigungssaft drauf, die er wohl über kurz oder lang eh weggeworfen hätte. Unter dem Aufkleber schaute noch ein anderer hervor, ein Stück zumindest, der Rest war abgerissen worden. Man konnte noch ein paar Buchstaben erkennen: OPI –.

  Wir gingen nach Hause und marschierten in die Küche. Das Gas war noch nicht abgestellt worden, warum, weiß ich nicht. Mom legte Frankie auf dem Tisch ab und setzte sich. Marge und ich rührten die Milch an und füllten die Babyflasche. Ich schwöre, Frankie hat sich hochgereckt und uns die Flasche aus den Händen gerissen.

  Sie nahm einen großen Schluck, machte „Gah“ und lächelte uns so zufrieden an wie ein Staubsaugervertreter. Dann machte sie die Augen zu und kümmerte sich um ihr Geschäft.

  „Die Milch sieht so lecker aus, ich glaub, ich mach mir auch eine“, sagte Mom. „Und ihr solltet auch was davon trinken.“

©Heyne©

Literaturangabe:

Thompson, Jim: Jetzt und auf Erden. Aus dem Amerikanischen von   Peter Torberg. Heyne Verlag, München 2011. 336 S., 9,99 €.

Weblink:

Heyne


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