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„Die Leinwand“

Über die Unzuverlässigkeit unserer Erinnerungen und das Ringen um Identität

© Die Berliner Literaturkritik, 07.05.10

MÜNCHEN (BLK) – Im Januar 2010 hat der C.H. Beck Verlag Benjamin Steins „Die Leinwand“ herausgegeben.

Klappentext: Ein Spiegelkabinett mit zwei Eingängen: Hinter beiden Buchdeckeln beginnt je eine Geschichte. Genau in der Mitte kommt es zur Konfrontation, treffen die beiden Erzähler, Amnon Zichroni und Jan Wechsler, aufeinander. Amnon Zichroni besitzt die Fähigkeit, Erinnerungen anderer Menschen nachzuerleben. Geboren in Jerusalem und streng jüdisch erzogen, studiert er in den USA und lässt sich in Zürich als Analytiker nieder. Dort begegnet er dem Geigenbauer Minsky, den er ermuntert, seine traumatische Kindheit in einem NS-Vernichtungslager schreibend zu verarbeiten. Beider Existenz steht auf dem Spiel, als der Journalist Jan Wechsler behauptet, das Minsky-Buch sei reine Fiktion.

Benjamin Stein wurde am 6. Juni 1970 in Berlin in der DDR geboren. Er veröffentlicht seit 1982 Lyrik und Kurzprosa in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien. Nach dem Abitur arbeitete er bis zur Wende 1989 als Nachtpförtner in einem Altenheim. Später studierte er Judaistik an der Freien Universität und Hebraistik an der Humboldt-Universität. 1993 nahm er am Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis teil. Sein erster Roman „Das Alphabet des Juda Liva“ erschien 1995 im „Ammann Verlag“. Es folgten journalistische Arbeiten als Redakteur und Korrespondent diverser deutscher und amerikanischer Computerzeitschriften. Seit 1998 arbeitet er freiberuflich als Berater im Bereich der Informationstechnologie.

Seine Lyrik und Prosa wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. 1996 mit dem Förderpreis des Kulturkreises beim Bundesverband der Deutschen Industrie. Stein war Mitherausgeber der von 2006 bis 2008 erschienenen Literaturzeitschrift „spa_tien“ und ist seit 2008 Inhaber des Autorenverlags Edition Neue Moderne. Er betreibt das literarische Weblog „Turmsegler“. Am 27. Januar 2010 erschien im Verlag C. H. Beck sein Roman „Die Leinwand“. (jos)

Leseprobe:

©C.H. Beck©

Amnon Zichroni

Ich glaubte lange Zeit, ich hätte so etwas wie einen sechsten Sinn. Nicht, dass ich tote Menschen sah oder etwas Vergleichbares, das man für übernatürlich hätte halten können. Es war eher das Gegenteil der Fall. Ich meinte, ein Gespür zu haben für das wirklich Vitale in Menschen, ein Gespür dafür, was sie antrieb oder hinderte, etwas zu tun, für jenen Kern in ihnen, den sie selbst in einem offenen Moment vielleicht als ihr Ich bezeichnet hätten.

Was einen Menschen ausmacht, steht ihm nicht ins Gesicht geschrieben. Es lässt sich nicht dem Klang seiner Stimme ablauschen. Man kann es nicht riechen und schmeckt es nicht einmal aus dem Tropfen Schweiß auf der Schläfe im Augenblick der Angst. Wollte man sich auf Berührungen verlassen, wäre man ganz verloren, denn Tastender und Berührter vermischen sich in der Berührung, und man kann nie sagen, ob man nicht mehr von sich selbst wahrnimmt in einem solchen Moment als von dem Menschen, den man zu erkennen hofft. Auch eine Mischung aus alldem ist es nicht.

Jan Wechsler

Für gewöhnlich öffnen wir am Schabbes nicht die Tür, wenn es läutet. Familie und Freunde würden nicht klingeln. Sie wären angemeldet und würden, um die vereinbarte Zeit herum, auf der gegenüberliegenden Straßenseite warten, so dass man sie vom Fenster aus sehen und nach unten gehen kann, um sie ins Haus zu lassen.

Das hat der Ewige geschickt eingefädelt: Beim Essen und am Schabbes merkt man, dass man unter Fremden lebt, im Exil. Die katholischen Nachbarn hängen keine Wäsche auf am heiligen Sonntag, würden sich aber kaum davon abhalten lassen, einen Brief zu schreiben oder nach der Messe mit dem Auto ins Grüne zu fahren. Die Studenten aus der WG eine Treppe tiefer haben von Gott, fürchte ich, nur eine ganz ungefähre Ahnung. In deutschen Großstädten ist er nicht wirklich in Mode. Von einem, der so ausgefeilte, einschränkende Forderungen an Menschen stellt wie Schabbes zu halten, will man hier heute lieber nichts Genaueres wissen.

©C.H. Beck©

Literaturangabe:

STEIN, BENJAMIN: Die Leinwand. C.H. Beck, München 2010. 416 S., 19,95 €.

Weblink:

C.H. Beck Verlag


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