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Die Mehrdeutigkeit menschlicher Beziehungen – Elliot Perlmans „Sieben Seiten der Wahrheit“

Der zweite Roman des 44-jährigen, ehemaligen Juristen

© Die Berliner Literaturkritik, 16.05.08

 

Das Wichtigste vorweg: Diesem Buch wünscht man viele Leser, Hunderttausende, Millionen, es ist eine kleine Sensation. Freilich eine, die zwischen dem monströsen Littell und der schrillschwülen Roche in diesem Bücherfrühjahr bisher unterzugehen droht. Was daran liegen mag, dass der Autor, der Australier Elliot Perlman, hierzulande weitgehend unbekannt ist.

Obwohl „Sieben Seiten der Wahrheit“, der zweite Roman des ehemaligen Juristen, in Australien, den USA und in Frankreich ein Bestseller war, dauerte es fünf Jahre, bis „Seven Types of Ambiguity“, so der englische Originaltitel, auf Deutsch erschien. Nun, besser spät als nie.

„Seven Types of Ambiguity“ – und das ist wichtig – ist auch der Titel eines Werks des Literaturkritikers William Empson, den der 44-jährige Perlman sehr verehrt. Empson versuchte zu erklären, was Gedichte so schön macht und kam zu dem Schluss, dass in der Mehrdeutigkeit ihrer Verszeilen und der Unendlichkeit ihrer Interpretationen das Poetische liege.

Perlman dreht mit „Sieben Seiten der Wahrheit“ nun Empsons Konzept sprachlicher Ambiguität weiter und widmet sich der Mehrdeutigkeit menschlicher Beziehungen. Eine Mehrdeutigkeit, die ernsthafte Konsequenzen nach sich zieht: „Wenn zwei Menschen verschiedener Ansicht sind, nicht nur über den Zustand ihrer Beziehung, sondern über ihr eigentliches Wesen, ihre Natur, dann kann das deren ganzes weiteres Leben beeinflussen.“

Simon, ein romantischer, träumerischer, intellektueller Nonkonformist, ist so ein Fall. Obwohl sie nichts mehr von ihm wissen will, idealisiert er seine große, doch längst verflossene Liebe Anna – und deren kleinen Sohn Sam. Er verfolgt die beiden heimlich beim Einkaufen, schleicht um ihr Haus und beobachtet Sam beim Spielen. Ein Stalker am Rande der Depression, den es zwanghaft drängt, Kontrolle über Annas Leben zu haben.

Als ein fremder Mann, womöglich ein Geliebter Annas, in dieses Leben eintritt, sieht Simon die Ordnung, sein System, bedroht und entschließt sich zu einer wahnwitzigen Tat: Er entführt Sam – um Anna zu einer Reaktion zu zwingen, sie wachzurütteln, und, nicht zuletzt, um sie nach zehn Jahren endlich wieder zu sehen.

Die Entführung endet glimpflich, doch nur auf den ersten Blick. Die Krankheiten aller Beteiligten werden nach der Tat wie unter einer Lupe vergrößert sichtbar, nach und nach verlieren sie die Kontrolle über ihr Leben. Oder zumindest das, was sie für Kontrolle hielten. Für jede Figur, das ist der Clou des Romans, hält die Entführung eine andere Bedeutung, eine andere Sicht auf die Wahrheit bereit.

Doch wo genau diese Wahrheit liegt, darüber wird sich der Leser im Verlauf der Geschichte immer unsicherer. Sieben Erzähler lässt Perlman mit ihren sich widersprechenden Geschichten zu Wort kommen: Simon, seinen Psychotherapeuten Alex, Anna, ihren Mann Joe, Joes Kollege Dennis, die Prostituierte Angel und Alex’ Tochter Rachael.

Dabei meistert der Autor ein doppeltes Kunststück: Zum einen bleibt das Buch trotz Redundanz immer spannend, zum anderen entwickelt der Leser für jede Figur, so unterschiedlich sympathisch sie sein mögen, wenigstens Empathie.

Perlman gelingt es dabei, gebildet zu schreiben, ohne dem Leser seinen Intellekt um die Ohren zu hauen; er lässt seine Protagonisten oft Kluges sagen, sich in tiefschürfenden Dialogen austoben (Der Dekonstruktivismus! Die Psychoanalyse!), doch längst nicht so künstlich gespreizt wie ein Mulisch oder eine Hustvedt.

Und Perlman schafft es, politisch zu schreiben, ohne ins Plakative oder Didaktische abzudriften. Seine Kritik an Globalisierung, deregulierten Märkten und Sozialabbau – ganz schön viel für einen einzigen Roman – zieht sich durch die gesamte Geschichte. „Die fassen das Brot nicht mehr an, nicht ein einziges Mal“, sagt Annas Vater, als er von den computergesteuerten Öfen in seiner alten Backfabrik erzählt. Mehr Wörter bedarf es nicht, um das Unheimliche an Rationalisierungen auszudrücken.

Überhaupt erzählt Perlman auf den gut 860 Seiten eher zurückhaltend, nüchtern, ja, bescheiden – ziemlich untypisch für das Genre Gesellschaftsroman mit seinen funkensprühenden Erzählern wie Franzen oder Wolfe, die Seite um Seite Ungetüme des Aberwitzigen aufbauen, um sie dann krachend einstürzen zu lassen.

In einem Interview sagte Perlman: „Auch wenn das Buch, das man liest, einem vielleicht keine Lösungen bietet, so fühlt man sich angesichts der Schönheit der Darstellung schon viel besser.“ Nun, nach der Lektüre von „Sieben Seiten der Wahrheit“ fühlt man sich sogar ganz ausgezeichnet.

Von Wendelin Hübner

Literaturangaben:
PERLMAN, ELLIOT: Sieben Seiten der Wahrheit. Roman. Aus dem Englischen von Matthias Jendis. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008. 864 S., 22,95 €.

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