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„Die Nacht von Wildhagen“

Flüchtlingsdramen aus sechs Jahrzehnten

© Die Berliner Literaturkritik, 19.11.09

FRANKFURT/MAIN (BLK) – Im Januar 2009 hat der Eichborn Verlag die Reportagensammlung von Wladzimierz Nowak unter dem Titel „Die Nacht von Winterhagen“ herausgebracht. Sie wurden von Joanna Manc aus dem Polnischen übersetzt.

Klappentext: „Haben Sie Ihrer Mutter später übel genommen, dass sie Sie aufhängen wollte? Deutsche Besetzung, Vertreibung, Kalter Krieg, Mauerfall - Włodzimierz Nowak erzählt von zwölf Schicksalen in der polnisch-deutschen Grenzregion, die man so schnell nicht vergisst. Als Włodzimierz Nowak sie trifft, ist Adelheid M. bereits 65 Jahre alt. Doch immer noch hat sie Angst - Angst vor der Erinnerung an die Nacht, in der die Mütter und Großmütter des Ortes erst ihre Kinder und Enkelkinder, dann sich selbst mit Messern, Schlingen und Seilen umbrachten aus Angst vor den vormarschierenden Russen. Adelheid überlebte, weil ein sowjetischer Soldat sie rechtzeitig von der Schlinge erlöste. 50 Jahre nach der Schreckensnacht von Wildenhagen: An der deutsch-polnischen Grenze entlang der Neiße gibt es unzählige Schleuser, die gegen Geld Flüchtlinge aus Russland, Sri Lanka oder Afghanistan nach Deutschland führen. Nowak hat einen von ihnen aufgesucht, den 23-jährigen Arek Banecki. Ohne seine illegale Arbeit würden die Baneckis nicht überleben können ...

Wlodzimierz Nowak, Jahrgang 1958, ist Reporter und arbeitet seit 16 Jahren für die Gazeta Wyborcza — derselben Zeitung, in der auch Ryszard Kapuściński seine Reportagen veröffentlichte. Zwischen 1997 und 2006 entstanden die Reportagen, die für das vorliegende Buch gesammelt und zusammengestellt worden sind. „Die Nacht von Wildenhagen“ wurde 2008 für den wichtigsten polnischen Literaturpreis — Nike — nominiert. (kum/wer)

Leseprobe:

©Eichborn Verlag©

Als der kleine Hund in den Fluss platschte, zeigte mir Gerdi gerade die Stelle, wo hinter Frau Ewas Haus die Drawa in die Noteae fließt. Still und wunderschön. Die Süße Ecke - so nannten die Deutschen noch vor dem Krieg diese Stelle, als das andere Ufer polnisch war und dieses deutsch und die Grenze in der Mitte der Noteae verlief. Angeblich sind einmal zwei Boote mit Zucker - das eine fuhr auf der Drawa, das andere auf der Noteae - an dieser Stelle zusammengestoßen und haben für einige Zeit das Wasser versüßt. Vor dem Krieg sah die Süße Ecke anders aus: am Ufer ein kleines Hotel mit Restaurant und einem Tanzsaal, daneben ein kleiner Flusshafen. Sechs Fischer vom polnischen und sechs vom deutschen Ufer zogen täglich volle Netze aus dem Wasser.

Dann stand das Hotel leer, die Besitzer waren geflohen. Rotarmisten zerschossen mit MPs Wände und Fenster. Einem Jungen aus der Nachbarschaft gefiel das nicht, er sprach die Soldaten mit den roten Sternen an. Er bekam eine Salve in den Bauch. Sie sprengten das kleine Hotel. Der junge Deutsche liegt bis heute in der Erde von Frau Ewas Garten. Dann geschah jahrelang nichts, nur manchmal ertrank jemand im Fluss, wie die beiden Brüder von Frau Ewa. Boote fuhren keine mehr. Die Häuser schotteten sich mit Brennnesseln und hölzernen Plumpsklos vom Wasser ab. Es war ruhig und ärmlich.

Nur einmal, fünfzig Jahre nach dem Rattern der sowjetischen MPs, donnerte ein Schuss. In Frau Ewas Scheune brachte sich Dietrich um, ein alter Deutscher. Er schoss sich eine große Ladung in den Mund. Mit so etwas schießt man auf Elefanten bei einer Safari.

Gerdi sagt, Dietrich sei ein Heimattourist gewesen. Er zeigt Fotos von anderen Heimattouristen. Hier, diese Alten am Kamin mit einem Glas Sekt und einem seligen Lächeln. Wahrscheinlich haben sie gerade einen alten Birnbaum aus der Kindheit entdeckt oder die Stelle, wo ihr Haus stand; haben sich an den Duft des Wermuts an einem heißen Tag erinnert, und an den Pfad, den sie immer zum Fluss hinunterliefen. Dietrich kehrte in die Heimat zurück, um sich umzubringen, denn er hatte Krebs. Er liegt auf dem Friedhof im nachbarlichen Drawiny, wo er einst zur Welt kam. Auch Gerdi nahm in seinem Bergmotel bei Drezdenko, ein paar Kilometer von hier, Heimattouristen auf. Die Alten aus Deutschland zahlten gut für das Wiedersehen mit ihrer Kindheit.

©Eichborn Verlag©

Literaturangabe:

NOWAK, WLODZIMIERZ: Die Nacht von Wildenhagen. Zwölf deutsch-polnische Schicksale. Eichborn Verlag, Frankfurt/Main 2009. 300 S., 19.95 €.

Weblink:

Eichborn Verlag

 

 


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