Von Roland H. Wiegenstein
„Ich glaube: a) Dass es keinen persönlichen Gott und kein Leben nach dem Tod gibt; b) Dass es im Leben nichts Erstrebenswerteres gibt als die Freiheit sich selbst treu zu sein, d.h. Ehrlichkeit…“
So beginnt das Tagebuch einer Vierzehnjährigen und es geht noch weiter bis h. Klar, dass sie das irgendwoher hat, klar aber auch, dass hier eine erstaunliche Göre zu schreiben beginnt, die anderthalb Jahre später die Eintragungen für 1947 lapidar mit dem Satz beginnt: „Ideen stören die Gleichmäßigkeit des Lebens“. Die Eintragungen reichen bis ins Jahr 1963, da ist die Schreiberin dreißig Jahre alt, hat eine gescheiterte Ehe hinter sich, ausführliche (und ausführlich behandelte) lesbische Erfahrungen, hat in Berkeley und Chicago studiert, in New York, Oxford und Paris gelebt und gerade ihren ersten Roman „Der Wohltäter“ fertig gestellt. Ihr Name: Susan Sontag (1933-2004).
Zur Herausgabe ihrer manchmal ziemlich indiskreten Notizen hat sich ihr Sohn, David Rieff, mit der Begründung entschlossen, dass seine Mutter ihre Hinterlassenschaften schon zu Lebzeiten einer kalifornischen Universität vermacht habe und es besser sei, ihre Publikation selbst in die Hand zu nehmen, als die etwa einem Doktoranden zu überlassen. Drei Bände sind vorgesehen. Rieff hat aus den über hundert Notizbüchern eine Auswahl getroffen, ohne anders als nur vage über deren Kriterien Auskunft zu geben.
„Vielmehr beruht die Auswahl, die ich getroffen habe, nicht zuletzt auf meinem Eindruck, dass das Bestechende an den Tagebüchern gerade ihre Ungeschliffenheit ist, das unbeschönigte Porträt, das sie von Susan Sontag als einer jungen Frau zeichnen, die sich entschlossen und reflektiert daran machte, das Selbst zu werden, das sie werden wollte.“
Dem zu folgen ist nicht leicht. Was der Backfisch und die sehr junge Frau notiert, ist nur zu Teilen belangvoll: etwa wenn sie sich in Aphorismen übt, wenn sie Lesefrüchte auf ihre Haltbarkeit abtastet, lange Listen von Büchern aufschreibt, die sie lesen will. Sie verraten immerhin die enorme Spannweite ihrer Interessen und die stupende Bildung, die sie anhäufen möchte und in der Tat kumuliert hat. Sie wählt ihre Professoren (mit sechzehn geht sie schon aufs College) mit Bedacht und wird leicht ungeduldig, wenn sie ihren Maßstäben nicht entsprechen. Sie hört Philosophie, Soziologie, Religionswissenschaften, entdeckt 1956 etwa den Unterschied zwischen „zartfühlender“ und „hartgesottener“ Religion:
„Die zartfühlende Religion geht davon aus, dass die Ansprüche von Religion + Ethik übereinstimmen; es ist ihr völlig zuwider, unvorstellbar, dass dem nicht so sein könnte. Die hartgesottene Religion lässt diese Trennung, ja sogar einen Widerspruch zwischen religiösen und ethischen Ansprüchen zu.“
Das Neue Testament nennt sie zartfühlend, das Alte hartgesotten. Viele ihrer intellektuellen Beobachtungen wirken als Notate für eine spätere Verwendung, kehren in anderer Form in ihren Essays wieder.
Doch sind solche theoretischen Betrachtungen, die selten über wenige Zeilen hinausgehen, nur ein kleiner Teil dieser Tagebücher. Ein anderer befasst sich mit dem Bohemeleben, das sie schon als Studentin zu führen begann, hechelt die Bekannten durch, mit denen sie durch Cafés, Hörsäle und Kinos zieht. In den sechziger Jahren geht sie fast jeden zweiten Tag in einen Film, bevorzugt solche mit künstlerischem Anspruch, ohne dass sie uns mehr als nur die Titel mitteilt – es ist wie bei den Büchern: Dies Tagebuch ist eben nicht für „uns“, sondern nur für sie geschrieben. Und weil sie eine Schreibhemmung fürchtet, notiert sie: „Von jetzt an werde ich jeden Blödsinn, der mir durch den Kopf geht, aufschreiben.“
Doch ihre Abenteuer des Denkens hält sie eher selten und dann ziemlich kryptisch fest. Was sie vor allem diesen Notizheften anvertraut, sind ihre überwiegend traurigen, ja trostlosen sexuellen Erfahrungen und die verzweifelten Versuche einer im Innersten monogam gepolten Frau sich mit strukturell polygamen Partnerinnen zu liieren. Sie wirbt ums diese, sie lässt sich demütigen bis sie beiseite gestoßen wird, sie erlebt wenige Aufschwünge und viele Niederlagen. Das alles scheint so gar nicht zu passen zu der scharfsinnigen, urteilstarken, entschiedenen Intellektuellen, die wir aus ihren Büchern doch zu kennen glaubten. Und doch - und das scheint mir die einzige, wenn schon nicht besonders starke, weil vom Herausgeber selbst als indiskret betrachtete Berechtigung zu sein für diese Veröffentlichung: Wir stoßen, weil wir darauf gestoßen werden, auf einen Grundzug dieser Frau, dessen wir uns nicht versahen: auf ein früh (zu früh?) „gebildetes“ Kind, eine nach Geist (und Sex) hungernde junge Frau von einer beispiellosen Naivität.
Man könnte das auch eine prolongierte „Unschuld“ nennen, die sich schwer tut mit dem, was sie umgibt. Nicht umsonst legt sie solchen Wert auf ihre (auch von ihrem Sohn bestätigte) „Ernsthaftigkeit“: Humor hat Susan Sonntag keinen. Alles was sie erlebt, seien es Kneipenbesuche, Kinoabenteuer, Leseerfahrungen, Liebesbeziehungen, nimmt sie derart ernst, dass es allenfalls manchmal zu ein bisschen Ironie langt, nie jedoch zur Gelassenheit eines seiner selbst sicher gewordenen Ichs. Und das wird so bleiben, auch ihr Leben als Großintellektuelle, die sie zweifellos geworden ist, ihre politischen Stellungnahmen (die in diesem Tagebuch noch keine Rolle spielen), ihre mutigen (auch pathetischen) Theaterexperimente im Sarajewo unter den serbischen Mördergranaten, ihr Kampf gegen den Krebs (diese „Metapher“, wie das in einem ihrer großen Essays heißt), das alles ist von tödlichem Ernst.
Sontags Lebensreligion war gewiss eine hartgesottene, und zugleich war sie die ständige, immer wieder enttäuschte Suche nach einem zartfühlenden Dasein, das sich in den wenigen Erwähnungen des Lebens mit ihrem Sohn David zeigt. Immer wieder macht sie sich selbst Vorschriften und schreibt die säuberlich untereinander: Ihr Ethik-Katalog ist rigoros. Und das macht am Ende auch viele redundante Zeilen erträglich: Sie ist auf eine schamlose und naive Weise glaubhaft.
Was die Umstände all dieser Notate betrifft, so genügen die wenigen (jeweils in Klammern gesetzten) Erläuterungen Rieffs nicht. Da lässt er Leser, die sich nicht in der kulturellen Szene von Paris und New York auskennen, häufig allein. Dass man die Orte, an denen Sontag diese Jahre zugebracht hat, oft erraten muss, ist noch das Wenigste, wo sie mehr gesehen hat als ein beliebiger Tourist, (etwa in Cadiz), sagt sie auch, wo das war. Doch über die geistigen Auseinandersetzungen wüsste man doch gern etwas mehr, als in den Tagebüchern steht. Vielleicht kommt das ja in den beiden folgenden Bänden.
Literaturangabe:
SONTAG, SUSAN: Wiedergeboren. Tagebücher 1947-1963. Carl Hanser Verlag, München 2010. 381 S., 24,90 €.
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