Von Susanna Gilbert-Sättele
BERLIN (BLK) - Es gibt viel Neues zu entdecken in diesem Bücherherbst: Neben den aktuellen Romanen international bekannter Autoren finden sich zahlreiche Debütwerke junger Schriftsteller, die zu lesen lohnenswert ist.
Der große britische Romancier Ian McEwan „Abbitte“ hat mit „Solar“ ein durchaus zeitkritisches Werk vorgelegt. Im Mittelpunkt steht „eine Figur mit vielen, vielen Schwächen“: Beard, ein Physiker und Frauenheld. Für ihn wird eine tiefe Zivilisationskrise zur eigenen. Der hochgelobte US-Autor Jonathan Franzen „Die Korrekturen“ hat wieder einmal den Vorhang gelüftet und in die Häuser der typischen Familien aus dem amerikanischen Mittelstand gespäht. In seinem neuen opulenten Roman „Freiheit“ hat er dabei etliche Verwerfungen in den Beziehungen ans Licht befördert.
Yann Martel will mit dem neuen Roman „Ein Hemd des 20. Jahrhunderts“ an den Weltbesteller „Schiffbruch mit Tiger“ anknüpfen: Wieder geht es in dem neuen literarischen Zauberspiel um Toleranz und Menschenwürde. Den Ängsten der Zeit gibt Joshua Ferris in seinem Buch „Ins Freie“ beklemmenden Ausdruck. Er beschreibt, wie der Drang davon zu rennen, das Leben und die Familie eines erfolgreichen Anwalts zerstört. Jean-Philippe Toussaint setzt mit „Die Wahrheit über Marie“ seine literarischen Variationen über eine besondere Leidenschaft fort und schließt seine Trilogie nach „Sich lieben“ und „Fliehen“ ab.
„Wölfe“, das Buch der Britin Hilary Mantel, als historischen Roman abzutun, würde dem mit dem Booker-Preis ausgezeichneten Werk bei weitem nicht gerecht. Am Beispiel des britischen Staatsmannes Thomas Cromwell (1485-1540) zeichnet Mantel ein sehr aktuelles Porträt der Macht.
Auch von bedeutenden deutschsprachigen Erzählern liegen einige neue Werke vor: Der Schweizer Adolf Muschg etwa gießt in „Sax“ gelebtes und ungelebtes Leben in Romanform. Figuren wie von Fellini bevölkern die Geschichte, in der Muschg die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Gewesenem und Gegenwärtigem spielerisch überspringt. Mit den Gefährdungen der Liebe beschäftigt sich Büchner-Preisträger Martin Mosebach in seinem Buch „Was davor geschah“. Es geht um Eifersucht und die Wechselspiele des Zufalls mit ihren fatalen Folgen für das Glück einzelner.
Überhaupt ist Liebe ein großes Thema in den deutschen Romanen: Michael Kleeberg erzählt von der schicksalhaften Begegnung einer Pariserin und eines US-Soldaten im „Amerikanischen Hospital“. Im Zeichen aktueller Kriege und seelischer Verunsicherung suchen die beiden Protagonisten im anderen Hilfe bei der Suche nach sich selbst. Einer großen, die Jahre überdauernden Liebe hat Markus Feldenkirchen seinen Debütroman „Was zusammengehört“ gewidmet. In fesselnder Prosa schildert der 35-Jährige, wie ein Mann nach über 20 Jahren von seiner Vergangenheit eingeholt wird.
„Die Liebe der Väter“ beleuchtet Thomas Hettche in seinem zeitgemäßen, sehr persönlichen Roman über den gemeinsamen Urlaub eines Mannes und seiner 13-jährigen bei der Mutter lebenden Tochter. Auch Gernot Gricksch beschreibt in „Das Leben ist nichts für Feiglinge“ die Beziehung zwischen der 15 Jahre alten Kim und ihrem Vater, die nach dem Tod der Mutter kompliziert, aber nicht hoffnungslos ist. Mit der abwesenden Mutter hingegen will Peter Wawerzinek in seinem Roman „Rabenliebe“ Frieden schließen. Den Autor quälte seit einem halben Jahrhundert die Frage, warum ihn die Mutter als Baby in der DDR zurückgelassen hatte. Das Trauma seines Lebens hat er „wie einen Bombengürtel“ getragen, dessen Explosionskraft sich in dem Buch entlädt.
Fremde Welten - vergangene wie gegenwärtige - in Osteuropa erschließen sich den Lesern einer Reihe neuer Romane: Svenja Leiber etwa versetzt in „Schipino“ ihren Protagonisten aus einem deutschen Normalleben in die Nähe einer maroden Kolchose , wo ihm sein Freund Viktor den russischen Sommer zeigen will. Inger-Maria Mahle hingegen lässt in „Silberfischchen“ ihren Helden, einen verwitweten pensionierten Polizisten, leidenschaftlich für eine Polin ohne Papiere entbrennen. Wie einst bei Günter Grass erlebt auch in Theodor Buhls Roman „Winnetou August“ ein kleiner Junge die Schrecken des Krieges. Die schlesische Familiengeschichte aus den letzten Kriegsjahren besticht durch sprachliche Genauigkeit - jenseits aller nostalgischen Verklärung und Heimattümelei.
Lebensgier in den Zeiten von New Economy gibt der 35-jährige Sascha Lolo in seinem rasanten Roman „Strohfeuer“ Ausdruck. Er begleitet seinen Protagonisten Stefan aus einer Welt aus Spaß, Sex und schnellem Geld in eine andere, in der es um Liebe und Leben geht. Die Atmosphäre der „dämlichen neunziger Jahre“ fängt der gleichaltrige Schriftstellerkollege Jörg Harlan Rohleder in seinem Debüt ein. Seine „Lokalhelden“ scharen sich um den cleveren Schmall und erleben das Erwachsenwerden in der deutschen Provinz.
* BLK-Notizbuch
* Service
- Theodor Buhl: Winnetou August, Eichborn Verlag, Frankfurt, 258 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-8218-6118-0
- Ian McEwan: Solar, Diogenes Verlag, Zürich, 368 Seiten, 21,90 Euro, ISBN 978-3-2570-6765-1 - Markus Feldenkirchen: Was zusammengehört, Verlag Kein & Aber, Zürich, 352 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3-0369-5575-9
- Joshua Ferris: Ins Freie, Luchterhand Verlag, München, 352 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-6308-7297-1
- Jonathan Franzen: Freiheit, Rowohlt Verlag, Reinbek, 608 Seiten, 24,95 Euro, ISBN 978-3-4980-2129-0
- Gernot Gricksch: Das Leben ist nichts für Feiglinge, Droemer Verlag, München, 288 Seiten, 12,95 Euro, ISBN 978-3-4261-9892-6
- Thomas Hettche: Die Liebe der Väter, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 224 Seiten, 16,95 Euro, ISBN 978-3-4620-4187-3
- Michael Kleeberg: Das amerikanische Hospital, Deutsche Verlags-Anstalt, München, 240 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-4210-4390-0
- Svenja Leiber: Schipino, Schöffling Verlag, Frankfurt, 160 Seiten, 18,95 Euro, ISBN 978-3-8956-1205-3
- Sascha Lobo: Strohfeuer, Verlag Rowohlt Berlin, Berlin, 256 Seiten, 18,95 Euro, ISBN 978-3-8713-4678-1
- Inger-Maria Mahlke: Silberfischchen, Aufbau Verlag, Berlin, 208 Seiten, 16,95 Euro, ISBN 978-3-3510-3309-5
- Hilary Mantel: Wölfe, Verlag Dumont, Köln, 780 Seiten, 22,95 Euro, ISBN 978-3-8321-9593-9 - Yann Martel: Ein Hemd des 20. Jahrhunderts, Fischer Verlag, Frankfurt, 224 Seiten, 18,95 Euro, ISBN 978-3-1004-7828-3
- Martin Mosebach: Was davor geschah, Hanser Verlag, München, 336 Seiten, 24,90 Euro, ISBN 978-3-4462-3562-5
- Adolf Muschg: Sax, Beck Verlag, München, 448 Seiten, 22,95 Euro, ISBN 978-3-4066-0517-8 - Jörg Harlan Rohleder: Lokalhelden, Piper Verlag, München, 288 Seiten, 16,95 Euro, ISBN 978-3-4920-5384-6
- Jean-Philippe Toussaint: Die Wahrheit über Marie, Frankfurter Verlagsanstalt, 240 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3-6270-0167-4
- Peter Wawerzinek: Rabenliebe, Galiani Verlag, Berlin, 300 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-8697-1020-4