MÜNCHEN (BLK) – Im November 2007 erschien bei dtv die 36. Auflage von Wilhelm Weischedels „Die philosophische Hintertreppe“.
Klappentext: „Wie fände sich ohne Studium, ohne wissenschaftlich geschultes Denken und Lesen der Zugang zu Aristoteles, Descartes, Kant oder Hegel und deren weltbewegenden Erkenntnissen? Wie wollte man seinem noch minderjährigen Sohn die vertrackten seinsreflexionen eines Heidegger, seinem kaufmännischen Freund Russells ‚Zweifel an den Prämissen’ oder einem Ingenieur der Industrie Wittgensteins ‚Tractatus’ und die Ergebnisse der ‚Philosophischen Untersuchungen’ etwa plausibel machen, und zwar so, daß ein zu eigenen Fragen und Reflexionen befähigendes Verständnis vermittelt wird? Wilhelm Weischedel ... hat die Masse gelehrter, aber schwer verständlicher Literatur beiseite geschoben und in vierunddreißig Aufsätzen die Quintessenz des Denkens und Lebenswerkes ebenso vieler Philosophen in unkonventionell er Weise so dargestellt, daß die jeweilige Kernproblematik und Kernantwort leicht verständlich ist, ohne daß gefährliche Verkürzungen zu verschmerzen wären. Die philosophische Hintertreppe wird zur sozialen Einrichtung, sie führt über nur geringe Umwege der anekdotischen Einführung in das Zentrum des jeweiligen Denkens, ohne beim Leser auch nur die geringste Vorkenntnis vorauszusetzen. Der Stoff von zweieinhalbtausend Jahren Philosophiegeschichte von Thales, dem philosophierenden Handelsmann aus Milet, bis hin zu Ludwig Wittgenstein, dem modernen Künder des Untergangs der Philosophie, wird hier ohne wissenschaftliche Arroganz und lehrmeisterhafte Attitüde erzählt, mit allen Mitteln dieser Kunst.“ (Rheinischer Merkur)
Prof. Dr. Wilhelm Weischedel, geb. 1905 in Frankfurt a. M., studierte in Marburg evangelische Theologie, Philosophie und Geschichte. 1932 Promotion zum Dr. phil. in Freiburg. Nach 1945 Dozent, dann Professor der Philosophie in Tübingen. 1953 ordentlicher Professor an der Freien Universität Berlin; 1970 emeritiert. Er starb 1975 in Berlin.
Leseprobe:
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Prolog
oder
Die zwei Aufgänge zur Philosophie
Die Hintertreppe ist nicht der übliche Zugang zu einer Wohnung. Sie ist nicht hell und geputzt und feierlich wie die Vordertreppe. Sie ist nüchtern und kahl und manchmal ein wenig vernachlässigt. Aber dafür braucht man sich für den Aufstieg auch nicht besonders vornehm zu kleiden. Man kommt, wie man ist, und man gibt sich, wie man ist. Und doch gelangt man auch über die Hintertreppe zum gleichen Ziel wie über die Vordertreppe: zu den Leuten, die oben wohnen.
Auch den Philosophen kann man sich feierlich nähern: über gepflegte Läufer und an blankgeputztem Geländer entlang. Aber es gibt auch eine philosophische Hintertreppe. Auch für den Besuch bei den Denkern gibt es ein „man kommt, wie man ist“ und ein „man gibt sich, wie man ist“. Und wenn man Glück hat, trifft man auch die Philosophen selber so an, wie sie sind, wenn sie nicht gerade am oberen Ende der Vordertreppe einen respektablen Gast erwarten; man trifft sie über die Hintertreppe ohne festliches Gepränge und ohne vornehmes Getue an. Vielleicht begegnet man ihnen da als den Menschen, die sie sind: mit ihren Menschlichkeiten und zugleich mit ihren großartigen und ein wenig rührenden Versuchen, über das bloß Menschliche hinauszugelangen. Wenn das geschieht, dann freilich ist die Unverbindlichkeit des Aufstiegs über die Hintertreppe vorbei. Dann gilt es, zu einem ernstlichen Gespräch mit den Philosophen bereit zu sein.
Vermutlich wird es nicht wenige Verkünder eines „vornehmen Tones in der Philosophie“ geben, die das Unternehmen des Verfassers aufs strengste verdammen werden, wenn sie es nicht überhaupt für unter ihrer Würde halten, davon Kenntnis zu nehmen. Ihnen sei es unbenommen, den Vorderaufgang zur Philosophie zu benutzen; auch der Verfasser hat dies in einigen seiner bisherigen Veröffentlichungen getan. Wenn er für diesmal die Hintertreppe benutzt, so auch deshalb, weil hier eine Gefahr ausbleibt, die der Vordertreppe eigentümlich ist: daß man nämlich unversehens, statt in die Wohnung der Philosophen zu gelangen, bei den Kandelabern, bei den Atlanten und Karyatiden verweilt, die das Portal, das Vestibül und den Treppenaufgang schmücken. Die Hintertreppe ist schmucklos und ohne jede Ablenkung. Zuweilen führt sie deshalb um so eher zum Ziel.
Thales
oder
Die Geburt der Philosophie
Wer alt geworden ist und sein Ende nahen fühlt, dem mag es wohl geschehen, daß er in einer ruhigen Stunde an die Anfänge seines Lebens zurückdenkt. Das widerfährt auch der Philosophie. Sie ist nun zweieinhalb Jahrtausende alt; es gibt nicht wenige, die ihr einen baldigen Tod prophezeien, und wer heute Philosophie betreibt, den mag wohl manchmal das Gefühl beschleichen, es sei eine müde und ein wenig klapprig gewordene Sache, mit der er sich abgibt. Aus dieser Empfindung kann das Bedürfnis erwachsen, sich in die Vergangenheit zurückzuversetzen und nach den Anfängen zu suchen, in denen die Philosophie noch frisch und mit jungen Kräften im Dasein stand.
Doch wer so der Stunde ihrer Geburt nachforscht, gerät in Verlegenheit. Es gibt ja kein Standesamt für geistige Geschehnisse, dessen Register so weit zurückreichte, daß sich die Eintragung jenes Geburtstages in ihm fände. Wann die Philosophie eigentlich ins Leben getreten ist, weiß keiner mit Sicherheit; ihr Anfang verliert sich im Dunkel früher Zeiten.
Nun sagt eine alte Tradition, die Philosophie habe mit Thales begonnen, einem klugen Manne aus der Handelsstadt Milet im griechischen Kleinasien. Der habe dort im 6. Jahrhundert v. Chr. gelebt und als erster unter allen Menschen philosophiert. Doch dem stimmt keineswegs der ganze Chor der Gelehrten zu. Einige weisen darauf hin, daß sich doch auch schon bei den frühen Dichtern der Griechen philosophische Ideen finden; so machen sie Hesiod oder gar Homer zu Urvätern der Philosophie. Andere gehen noch weiter zurück und behaupten, es habe auch schon bei den orientalischen Völkern eine Art von Philosophie gegeben, längst ehe das Volk der Griechen in das Licht der Geschichte getreten sei.
Weit radikaler noch ist ein Gelehrter aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts, Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, Jakob Brucker, oder, wie er sich, der Sitte der Zeit entsprechend, nennt: Jacobus Bruckerus. Er verfaßt ein dickleibiges lateinisches Opus mit dem Titel ‚Kritische Geschichte der Philosophie, von der Wiege der Welt an bis zu unserem Zeitalter’. Der Beginn der Philosophie reicht also, wenn man diesem Gelehrten trauen will, zurück bis in die allerersten Anfänge, bis zu der Wiege oder, wie man das lateinische Wort auch übersetzen kann, bis zu den Windeln der Menschheit. So findet sich denn auch auf dem Titelblatt des i. Bandes ein Bild einer vorzeitlichen Landschaft, mit einem urwelthaften Bären, der versunken an seiner linken Klaue kaut. Darüber steht die Inschrift: „ipse alimenta sibi“, zu deutsch: „er ist selber seine eigene Speise“, was denn wohl heißen soll: die Philosophie bedarf keiner fremden Nahrung, keiner vor. hergehenden Wissenschaft oder Kunst, sondern sie ist sich selbst genug; kurz: die Philosophie entspringt aus sich selber, und zwar eben zu der Zeit, als die Menschheit noch in ihren Windeln liegt.
Daher muß Jacobus Bruckerus in seiner Suche nach den Anfängen der Philosophie weiter und weiter zurückgehen: hinter die Griechen und hinter die Ägypter und Babylonier, ja noch hinter die Sintflut, bis in jene Zeit zwischen Adam und Noah, in der die Menschheit ihre ersten Schritte tut. Darum heißt der erste Teil seines voluminösen Werkes: ‚Vorsintflutliche Philosophie’. Doch auch hier hält Bruckerus noch nicht inne; er erörtert sogar die Frage, ob es nicht vielleicht schon vor Beginn der Menschheit, unter den Engeln und Dämonen, Philosophen gebe. Hier kommt er nun freilich nach scharfsinniger Untersuchung zu dem Ergebnis: weder Engel noch Dämonen sind Philosophen. Auch Adam und seine Söhne und Enkel werden ihm, wie er sie genauer betrachtet, fragwürdig. Zwar kann er bei ihnen Spuren philosophischer Reflexion entdecken; aber diese reichen doch nicht aus, um jene mit dem Mantel des Philosophen zu umhüllen. Adarn etwa, so meint Bruckerus, habe ja gar keine Zeit für philosophische Spekulationen gehabt. Denn wer sich den ganzen Tag um seines Leibes Notdurft kümmern müsse, wer, wie die Bibel sagt, im Schweiße seines Angesichts sein Brot essen müsse, der habe am Abend keinen Kopf mehr für tiefsinnige Gedanken.
So ähnlich denkt übrigens auch der erste Geschichtsschreiber der Philosophie, der große Aristoteles. Wissenschaft und Philosophie, so etwa sagt er, hätten erst dann beginnen können, als die äußere Notdurft einigermaßen gestillt war und die Menschen für andere Dinge Muße hatten. Das nun sei zum ersten mal in Ägypten der Fall gewesen, nämlich bei den Priestern dieses Landes; diese hätten darum Mathematik und Astronomie erfunden. Die Philosophie im eigentlichen Sinne aber sei erst bei den Griechen entstanden, und zwar in der Muße, die sich ein großer Handelsherr in der reichen Stadt Milet leisten konnte. So also kommt Aristoteles an den Punkt, an den man seitdem immer wieder den Anfang der Philosophie verlegt: eben zu dem Philosophen Thales aus Milet.
Von seinem Leben und Wesen weiß man allerdings nicht viel. Aristoteles stellt ihn als einen klugen, fast möchte man sagen gerissenen Geschäftsmann dar. Als er nämlich eines Tages bemerkt, dass die Olivenernte besonders reichlich zu werden verspricht, kauft er sämtliche Ölpressen auf und vermietet sie zu hohem Zinse weiter. Ob diese Geschichte stimmt, ist freilich unsicher. Gewiß ist dagegen, daß Thales sich mit politischen Dingen befaßt und sich dann der Mathematik und der Astronomie zuwendet. Auf diesem Felde wird er ein berühmter Mann; es gelingt ihm, eine Sonnenfinsternis exakt vorauszuberechnen, und der Himmel tut ihm den Gefallen, an dem vorhergesagten Tage auch tatsächlich die Sonne sich verdunkeln zu lassen.
Diese Tatsache nimmt übrigens ein gegenwärtiger Geschichtsschreiber zum Anlaß, um die Geburtsstunde der Philosophie exakt anzugeben; er schreibt den lapidaren Satz: „Die Philosophie der Griechen beginnt mit dem 28. Mai 585“; denn das eben ist der Tag jener vorausverkündeten Sonnenfinsternis. Man fragt sich freilich, was denn die Philosophie mit Sonnenfinsternissen zu tun habe, es sei denn, die Geschichte der Philosophie sei selber eine Folge nicht von Erleuchtungen, sondern von Finsternissen.
Im übrigen ist Thales allem Vermuten nach ein echter Weiser: ein Mann nämlich, der nicht nur tief nachdenkt, sondern auch das Leben und seine Absonderlichkeiten kennt. Das wird von antiken Gewährsmännern in hübschen Anekdoten illustriert. Seine Mutter will ihn überreden zu heiraten; er aber antwortet: „Noch ist es nicht Zeit dazu.“ Als er dann älter wird und die Mutter ihn immer eindringlicher bestürmt, erwidert er: „Nun ist die Zeit dazu vorüber.“ Tiefsinniger noch ist eine andere Geschichte: auf die Frage, warum er keine Kinder zeugen wolle, antwortet er: „Aus Liebe zu den Kindern.“
Nun mag man die Vorsicht in ehelichen und väterlichen Dingen für eine lobenswerte Eigenschaft halten: sie reicht doch nicht aus, um einen Menschen zum Philosophen zu machen. Was Platon berichtet, ist aber echt philosophisch: „Als Thales die Sterne beobachtete und nach oben blickte und als er dabei in einen Brunnen fiel, soll eine witzige und geistreiche thrakische Magd ihn verspottet haben: er wolle wissen, was am Himmel sei, aber es bleibe ihm verborgen, was vor ihm und zu seinen Füßen liege.“ Der Philosoph im Brunnen ist allerdings eine kuriose Erscheinung. Platon aber gibt dieser Geschichte eine ernsthafte Wendung. „Der gleiche Spott trifft alle, die in der Philosophie leben. Denn in Wahrheit bleibt einem solchen der Nächste und der Nachbar verborgen, nicht nur in dem, was er tut, sondern fast auch darin, ob er ein Mensch ist oder irgend ein anderes Lebewesen ... Wenn er vor Gericht oder irgendwo anders über das reden muß, was zu seinen Füßen oder vor seinen Augen liegt, ruft er Gelächter hervor, nicht nur bei Thrakerinnen, sondern auch beim übrigen Volk; aus Unerfahrenheit fällt er in Brunnen und in jegliche Verlegenheit; seine Ungeschicklichkeit ist entsetzlich und erweckt den Anschein der Einfältigkeit.“ Doch nun kommt das Entscheidende: „Was aber der Mensch ist, und was zu tun und zu erleiden einem solchen Wesen im Unterschied von den anderen zukommt, danach
sucht er und das zu erforschen müht er sich.“ Jetzt also kehrt sich die Sache um. Platon will sagen: wenn es um das Wesen der Gerechtigkeit und um andere wesentliche Fragen geht, dann wissen die andern nicht aus noch ein und machen sich lächerlich; dann aber ist die Stunde des Philosophen gekommen.
Jetzt versteht man, weshalb Platon, Aristoteles und viele andere nach ihnen gerade diesen Thales aus Milet als den ersten Philosophen bezeichnen. Es geht ihm nicht um die Dinge, sondern um das Wesen der Dinge. Er will dahinter kommen, was es in Wahrheit mit dem auf sich hat, was sich in so vielfältigen Gestalten in der Welt findet: mit den Bergen, den Tieren Lind den Pflanzen, mit dem Wind und den Sternen, mit dem Menschen, seinem Tun und seinem Denken. Was ist das Wesen von alledern, fragt Thales. Und weiter: woher kommt, woraus entspringt das alles? was ist der Ursprung von allem? was ist das Eine, alles Umfassende, das Prinzip, das macht, daß das alles wird und ist und besteht? Das sind, wenn auch von ihm selber nicht so ausgesprochen, die Grundfragen des Thales, und indem er sie als Erster stellt, wird er zum Anfänger der Philosophie. Denn nach dem Wesen und nach dem Grunde zu fragen, ist seitdem und bis heute das zentrale philosophische Anliegen.
Die Antwort freilich, die Thales auf diese Frage gibt, ist seltsam. Er behauptet nämlich, so wird berichtet, das Wasser sei der Ursprung von allem. Wie? All das, was wir als Fülle der Weltgestalten vor Augen haben, jene Berge, Sterne und Tiere, wir selber und der Geist, der in uns wohnt, all das soll aus dem Wasser stammen, soll seinem innersten Wesen nach nichts als Wasser sein? Eine wunderliche Philosophie, diese Philosophie im Anfang.
Offenbar muß man Thales um dieses seines Grundgedankens willen als einen ausgesprochenen Materialisten ansehen. Das Wasser, ein materieller Stoff, wird zum Urprinzip gemacht; aus Materiellem also will dieser Philosoph alles ableiten. So kann man es in manchen Lehrbüchern der Geschichte der Philosophie lesen. Freilich, so wird hinzugefügt, Thales ist noch ein recht primitiver Materialist. Denn die Forschung nach den Urbestandteilen der Wirklichkeit hat seine These keineswegs bestätigt; die Frage nach den ursprünglichsten Konstituentien der Welt ist viel zu kompliziert, als daß sie mit der einfachen Annahme beantwortet werden könnte, das Wasser sei das Urprinzip. Thales ist also ein Materialist; aber man braucht ihn mit seiner überholten Annahme nicht mehr ernst zu nehmen.
Aber die darin liegende Verachtung des Anfangs der Philosophie sollte doch zu denken geben. Hat man denn jenen Satz vom Wasser als dem Urprinzip richtig verstanden, wenn man ihn so ohne weiteres als Ausdruck eines philosophischen Materialismus deutet? Das Bedenken wird noch verstärkt, wenn man hinzunimmt, daß von Thales ein zweiter Satz überliefert wird, der nun ganz und gar nichtzu der materialistischen Deutung passen will. Er lautet: „Alles ist voll von Göttern.“ Jetzt geht es offenbar nicht darum, daß alle Wirklichkeit aus einem Urstoff erklärt wird. Jetzt wird vielmehr gesagt: was wir vor uns sehen, diese ganz sichtbare Welt, ist die Stätte der Anwesenheit von Göttern. Der Mensch begreift die Welt nicht richtig, wenn er meint, was er um sich sieht, seien einfachhin vorhandene Dinge; er muß einsehen: es ist das Wesen der Dinge, dass in ihnen Göttliches waltet.
Hat also Thales, in seinen beiden Sätzen vom Wasser und von den Göttern, zwei einander widerstreitende Behauptungen aufgestellt? Denn dies beides steht doch offenbar zueinander im Gegensatz: entweder ist die Wirklichkeit bloßer Stoff, oder sie ist göttlichen Lebens voll. Wenn aber hier ein schroffes Entweder-Oder herrscht, auf welcher Seite liegt dann die Wahrheit? Diese Frage reicht bis in den Grund der Weltdeutung, und sie ist bis heute nicht zu Ende gekommen. Noch in der Gegenwart geht es in den philosophischen Diskussionen entscheidend darum, ob die Welt von einem rein materiellen Prinzip her zu verstehen ist, oder ob wir annehmen sollen, die Dinge seien sichtbare Zeichen eines Tieferen, die Welt sei Ausdruck eines in ihr waltenden göttlichen Prinzips, vielleicht gar das Geschöpf eines schaffenden Gottes. Doch wie steht es eigentlich in dieser Hinsicht mit Thales, dem anfänglichen Philosophen? Hat er tatsächlich, wie es bis jetzt den Anschein hat, das Widerstreitende unverbunden nebeneinandergestellt, das Unversöhnliche gelehrt, ohne den Widerspruch zu merken? Oder steht etwa seine Behauptung, alles sei aus dem Wasser entsprungen, doch mit der anderen in Verbindung, daß alles voll von Göttern sei? Erwächst vielleicht die Unvereinbarkeit nur daraus, daß man die These vom Ursprung aus dem Wasser im modernen naturwissenschaftlichen Sinne deutet, als eine Hypothese über den materiellen Urstoff, und daß man sie damit nicht in ihrem wahren, zeitgenössischen Sinne versteht? Denn es ist doch sehr die Frage, ob eine solche naturwissenschaftliche Theorie der Weltsicht entspricht, wie sie die Menschen des sechsten Jahrhunderts v. Chr. besitzen. So gilt es, noch einmal zu überlegen, was es heißen will, wenn Thales sagt: Ursprung von allem ist das Wasser.
Da hilft nun weiter, was Aristoteles über Thales berichtet. Er weiß zwar selber nicht mehr genau, was jener Urvater der Philosophie eigentlich sagen will; immerhin sind ja bis auf seine Tage fast drei Jahrhunderte verflossen, Aber wie Aristoteles an dem dunklen Spruch vom Wasser herumrätselt, meint er, Thales denke dabei wohl an den Okeanos, jenen Urstrom, der nach alter Sage die Erde umfließt und als Vater des Entstehens von allem gilt. Vielleicht auch sei dem Thales gegenwärtig, daß von altersher erzählt wird: wenn die Götter einen Schwur leisten, rufen sie den Styx an, den Totenfluß, der das Reich der Lebendigen vom Reich der Schatten trennt; der Eid aber, fährt Aristoteles fort, ist das Heiligste von allem. Uraltes mythisches Wissen also beschwört Aristoteles herauf, wenn er sich an die Deutung des Satzes des Thales macht: den Gedanken an den Okeanos und den Styx, die mythischen Urströme, und an die magische Heiligkeit des Eides. Und jetzt ist deutlich, wohin Aristoteles weisen will. Wenn Thales vom Wasser redet, dann denkt er nicht an einen materiellen Urstoff, sondern an die mythische Mächtigkeit des Ursprünglichen, an die Göttlichkeit des Ursprungs. Dazu nun fügt sich bruchlos jener zweite Satz des Thales, wonach alles voll von Göttern ist. Das heißt dann nicht: da ist ein Stück Apollon und dort ein Stück Zeus. Sondern das besagt: alles, was ist, ist von göttlichen Kräften durchwaltet. Wo wir philosophieren, dürfen wir die Welt nicht einfach so betrachten, als bestünde sie aus einer Fülle nebeneinanderliegender Dinge. In der Welt waltet vielmehr ein einheitliches Prinzip, ein mächtig Göttliches, und aus ihm hat alles, was ist, Ursprung und Bestehen.
Warum ist es aber gerade das Wasser, in dessen Bild Thales die Göttlichkeit des Ursprungs erblickt? Das hat, wie Aristoteles vermutet, darin seinen Grund, daß alles Lebendige in der Welt dadurch ins Leben kommt und sich im Leben erhält, daß es vom Wasser getränkt wird. Wie dieses in den Dingen die Lebendigkeit schafft, so steht es auch mit dem göttlichen Urgrund: Er belebt alles, indem er alles durchdringt. So will denn der Satz des Thales, alles sei aus dem Wasser entsprungen, dies besagen: In allem Wirklichen waltet ein göttlich Wirksames, von ursprünglicher Mächtigkeit wie die Urströme des Mythos und alles durchdringend wie das lebenerhaltende Wasser.
Damit aber ist Entscheidendes für das Verständnis des anfänglichen Wesens der Philosophie gewonnen. Diese beginnt nicht mit primitiven naturwissenschaftlichen Fragestellungen und Theorien. Es geht ihr vielmehr darum, in einer Zeit, in der die Kraft des Mythos zu verblassen beginnt, doch das zu bewahren, worum der Mythos weiß: zu bewahren freilich in einer gewandelten Form, nämlich in der des ausdrücklichen Fragens nach dem Ursprünglichen und Göttlichen.
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Literaturangabe:
WEISCHEDEL, WILHELM: Die philosophische Hintertreppe.
Die großen Philosophen in Alltag und Denken. dtv, München 1975. 304 S., 8,90 €.
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