In den Augen der mittelalterlichen Kirche galt sie als eine der sieben Todsünden. Heute ist ihr damit nicht mehr beizukommen. Gebar sie früher Teufelswünsche, hilft sie nun, lustvolle Empfindungen zu kultivieren. Die Wollust hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Ihre interessantesten Aspekte arbeitet Simon Blackburn in seinem neuesten Buch auf. Er ist nicht etwa Historiker oder Theologe, sondern Philosoph. Als solcher übergeht er jedoch weder religiöse Momente, noch wird versäumt, zahlreiche Illustrationen aus der Geschichte in die Darstellung einzuflechten. Er betrachtet sich als „philosophischen Flaneur, der sich im Park ergeht, hie und da innehaltend, um auf einen interessanten Gesichtspunkt hinzuweisen.“ Man folgt ihm gerne.
Da wird etwa von Aristoteles erzählt, der seinen Schüler Alexander, den späteren „Großen“, dazu anhält, weniger Zeit mit der Gespielin Phyllis zu verbringen. Prompt trennt er sich, allerdings nicht ohne ihr den Grund zu verraten. Davon angespornt, turnt Phyllis nun vor der Stube des Aristoteles auf und ab. Sie hat Erfolg, gibt sich ihm aber nur unter einer Bedingung hin: Er solle zuvor auf alle Viere gehen und sie aufsitzen lassen, damit sie auf ihm durch den Garten reiten könne—sehr zur Freude Alexanders. Oder von Augustinus, der das Christentum maßgeblich mit seiner Interpretation der Erbsünde prägte und der Wollust erst absagte, nachdem er Frau und Kind verstieß und—wie man vermuten kann—nach einer Beruhigung seines Gewissens suchte.
Bei diesen Geschichten belässt es Blackburn jedoch nicht. Sie sind stets Anlass, um nachzuhaken und das Verständnis der Wollust durch leichtfüßige Analyse zu vertiefen. Dies geschieht in Form logisch - begrifflicher Schlüsse und Ausschlüsse ebenso wie durch zahlreiche Verknüpfungen in Kunst - und Kulturgeschichte. In den laufenden Text eingestreut sind immer wieder Abbildungen von Gemälden, Vasen sowie zeitgenössische Abbildungen—etwa eines Mick Jagger. Auf diese Art trocknet die Analyse nicht aus, sondern wird immer wieder aufs Neue dem lebendigen, nicht festlegbaren, nur zu umkreisenden Wesen der Wollust gerecht.
Blackburn vermag es, die Wollust durch differenzierte Betrachtung von dem Firnis einseitiger Vorurteile zu befreien. Er illustriert ihr mannigfaches Vorkommen in der Menschheitsgeschichte, welche lehrt, Anerkennung der Wollust jeder Ignoranz vorzuziehen. Entfalten kann sie sich nur, „sofern sie unbelastet ist von schlechter Philosophie und Ideologie, von Falschheiten, Verzerrungen, Entartungen, Perversionen und Verdächtigungen“. Dass der Humor dabei ein willkommenes Mittel ist, zeigt Blackburns Spaziergang en passant auf.
Der Weg durch die 135 Seiten ist rasch durchwandelt. Woran das liegen mag? Blackburn hat die Wollust in seinem Büchlein nicht nur thematisiert, sondern inszeniert. Und vermittelt als wollüstiges Denken.
Von Mathias Schick
Literaturangabe:
BLACKBURN, SIMON: Wollust. Die schönste Todsünde. Aus dem Englischen von Matthias Wolf. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008. 144 S., 10,90 €.
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