Klaus Hammer
Vor über 20 Jahren erwarb das Lehmbruck Museum in Duisburg den bemalten Originalgips von Giacomettis lebensgroßer „Frau auf dem Wagen“, um 1945 geschaffen und ein Hauptwerk des Künstlers darstellend. Die seltsam entrückte Figur steht mit geschlossenen Beinen und eng am Körper anliegenden Armen in kultischer Strenge auf einem mit Rädern versehenen Sockelblock. Sie gleicht einer jugendlichen ägyptischen Gottheit. Das Holzwägelchen, das inzwischen durch ein neues ersetzt wurde, lässt den Eindruck von Bewegung entstehen, ebenso wie die leicht schräge Achse der Figur. Man könnte sich gut vorstellen, dass die Skulptur auf dem Wagen von Gläubigen in einer Prozession mitgezogen würde. Doch die Unbeweglichkeit der Radachsen gestattet lediglich ein Vor- und Zurückfahren der Skulptur, was für Giacometti gleichbedeutend ist für die Ereignishaftigkeit und das transitorische Erscheinen und Wieder-Verschwinden einer Figur. Erstmals in der Geschichte der Bildhauerkunst thematisierte der 1901 in einem Bergbauerndorf geborene Schweizer Künstler hier die Darstellung der Distanz.
So ist die „Frau auf dem Wagen“, die hier in allen vier existierenden Fassungen – zwei weiteren Gipsfiguren und einem Bronzeguss von 1964 – erstmals gemeinsam vorgestellt wird, der Ausgangspunkt der Duisburger monografischen Ausstellung (bis 18. April 2010). Sie will die Verbindungen zwischen Skulptur, Malerei, Zeichnung und Druckgrafik im Werk Giacomettis, zwischen den Miniaturskulpturen und der deutlich größeren Skulptur auf dem Wagen sowie den gestreckten Frauenfiguren von 1947 wie der „Frau Leoni“ (1947-57) und dem zweirädrigen großen „Wagen“ (1950) darstellen, die zu den Markenzeichen des Künstlers werden sollten.
Der Katalog, eingeleitet von dem Direktor der Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum, Christoph Brockhaus, und dem Präsidenten der Fondation Alberto et Annette Giacometti, Jacques Vistel, enthält zwei grundlegende Aufsätze der Kuratoren der Ausstellung und Herausgeber des Kataloges, Gottlieb Leinz und Véronique Wiesinger. Véronique Wiesinger von der Fondation A. et A. Giacometti sieht in den Figuren Giacomettis eine Kettenreaktion, sie knüpfen untereinander Verbindungen, jede Figur verweist auf eine andere, ist geprägt durch „Unvorhersehbares“ und den „Rückgriff zu Früherem“. Das zeigt sie an der Folge „Der Wagen“ – „Frau auf dem Wagen“ – „Die Pferde“ – „Kleine Figurine“ – die „Köpfe“, wobei sie ebenso die einzelnen Fassungen untersucht wie auch auf die Bezüge zwischen den Zeichnungen und Gemälden und den Skulpturen aufmerksam macht. Vor allem aber erörtert sie die Zusammenhänge und Einflüsse, wie sie zwischen der englischen Malerin und Künstlermuse Isabel Nicholas und einer Anzahl von Werken Giacomettis, darunter die „Frau auf dem Wagen“, existieren.
Gottlieb Leinz dagegen spürt dem Rad- und Wagenmotiv bei der „Frau auf dem Wagen“ nach, er sieht für die Strenge der Figur auf dem Wagen – aber auch für die aufwändige Bemalung des Gipses - Parallelen im ägyptischen Tempel- und Totenkult. Den „Widersprüchen zwischen Frau und Göttin, Alltag und Mythos“ sei diese „Frau auf dem Wagen“ ausgesetzt. Der zweirädrige große „Wagen“, mit dem Giacometti dann noch einmal das Motiv der „Frau auf dem Wagen“ aufgegriffen hat, könnte dann wieder an einen Triumph-, Streit- oder Kultwagen aus mediterranen Regionen erinnern. Carol Jakobi setzt sich wiederum mit dem Leben und Werk von Giacomettis Freundin Isabel Nicholas auseinander, die nicht nur ihm, sondern auch Francis Bacon Modell gestanden hat.
Auf Giacomettis Beziehungen zu dem Mediziner Serafino Corbetta in Chiavenna, der von Giacometti zwei bedeutende Werke – die Bronzefigur des „Gehenden“ und die Gipsplastik der „Frau auf dem Wagen“ – erhalten hatte, gehen Pucci Corbetta, die Tochter des Arztes, und Roberto Sarfatti ein. Schließlich zieht der zeitgenössische, konsequent figürlich arbeitende Bildhauer Stephan Balkenhol, der mit einer eigenen Präsentation die Giacometti-Ausstellung bereichert, überraschende Vergleiche mit dem Werk von Giacometti.
Jeder der Beiträge geht seine eigenen Wege, es gibt auch unterschiedliche Auffassungen von Véronique Wiesinger und Gottlieb Leinz bei der Interpretation der „Frau auf dem Wagen“. Das belebt natürlich den Meinungsstreit, doch ist es für den Leser nicht ganz einfach, einen zusammenfassenden Überblick über die Entwicklungen im Werk Giacomettis zu gewinnen. Zur Erfassung der körperlichen Gesamterscheinung seines Modells hatte der Schweizer Künstler dieses immer weiter von sich weggerückt, so dass die Skulptur immer kleiner und kleiner wurde, bis zu ihrem völligen Verschwinden. Die Bildnisbüsten und Figuren, die zwischen 1935 und 1946 entstanden, sollten das Erinnerungsbild der Raumferne wiedergeben. Während die Figuren so immer kleiner gerieten, wurden die Quadersockel immer umfangreicher.
Nicht der Begriff der natürlichen Lebensgröße war für Giacometti entscheidend, sondern die relative eines Menschen im Verhältnis zum gesamten Blickfeld des Augenpaares. Neben zahlreichen Arbeiten von extremer Kleinheit griff er mit der „Frau auf dem Wagen“ (sie ist in der Tat erst vor wenigen Jahren als Giacomettis englische Freundin Isabel Nicholas identifiziert worden) wieder das Thema der sich vorwärts bewegenden Frauengestalt auf, die aber nicht schreitet, sondern nur vor- und zurückgefahren werden kann und die sich zudem in strikter Frontalität präsentiert. Mit Hilfe feinliniger Zeichnungen fand er schließlich zu einer entmaterialisierten und vertikalisierten Wiedergabe des vor ihm stehenden Modells. Seine Skulpturen wurden jetzt lang und dünn; ihre Oberfläche löste sich dabei in knorpelhafte Einzelteile auf, die sich im Auge des Betrachters erst mit zunehmendem Abstand zu einer erkennbaren Gestalt verdichten.
Im Zyklus von Triumph und Tod hat er dann das Motiv der „Frau auf dem Wagen“ durch Hinzufügung von Rädern zum großen „Wagen“ weiterentwickelt, der – und hier scheint die Argumentation von Leinz durchaus einleuchtend zu sein – an antike Kampfwagen, kultische Sonnenwagen oder Zeremonialobjekte keltischer Herkunft erinnert. Statt eines Kriegers steht hier eine Frau, die auch Isabel Nicholas darstellt, erhöht auf dem Wagen und verleiht der Skulptur magischen Charakter.
Dem plastischen Werk trat von nun an gleichberechtigt die Malerei zur Seite, in der Giacometti das Problem der Distanz in der Zweidimensionalität eines flächigen Bildträgers zu lösen versuchte. Kräftige schwarze Pinselstriche benutzte er wie zeichnerische Linien für den Aufbau des Körpervolumens. Die Figur tritt aus einem bestimmbaren Umraum hinaus, der Körper wird nebelhaft, die Gesichter erscheinen wie magische Phänomene. Die Gemälde wirken wie in Öl auf Leinwand aufgetragene Zeichnungen. Später sollte sich für Giacometti die Realität eines Menschen vor allem im Blick konzentrieren.
Um die „Totalität des Lebens“ einzufangen, genügten ihm wenige Figurentypen: Seine stehenden Frauen, Sinnbild lebensbewahrender Beständigkeit, zwingen den Betrachter, ihrem geradeaus gerichtetem, stummen Blick standzuhalten, während die rastlos schreitenden männlichen Figuren den Betrachter gänzlich zu ignorieren scheinen. Auch wenn er mehrere Figuren – oft miniaturhaft klein – zu Gruppen zusammenfügte, stellt sich keine Beziehung zwischen ihnen ein. Während „Platz“ (1950) noch filigrane Figuren zu einer „Vision“ zusammenführte, formte er für die Chase Manhattan Plaza in New York weit überlebensgroße, frei stehende Figuren. Eine „Große Frau“ von fast acht Metern Höhe zu schaffen, verhinderte 1966 der Tod.
Diesen Figurentypen gesellt sich der Kopf als Sinnbild des Zentrums geistiger Lebenskraft hinzu. In den späten Porträtbüsten seiner Frau Annette oder seines Bruders Diego ging es nicht mehr um die Darstellung eines vorübergehenden „Augen-Blickes“ verschiedener Individuen, sondern um die Sichtbarmachung des Wesens der Gattung Mensch. Die Formulierung eines Zeitempfindens ist kaum je treffender zum Ausdruck gekommen als in seinen Figuren. In den letzten Lebensjahren sagte Giacometti viele Ausstellungen ab, weil er wie besessen an Büsten und Bildnissen arbeitete, die das Einmalig-Individuelle des Hier und Jetzt mit der zeitlosen Allgemeinbedeutung, wie sie etwa antike Bildwerke haben, verbinden sollten.
In Zwiesprache mit den Skulpturen, Gemälden, Zeichnungen und historischen Fotografien kann der Betrachter eine spannende Entdeckungsreise antreten. Kunsthistorische Forschung ist hier in sinnlich konkrete Anschauung umgesetzt worden.
Literaturangabe:
GIACOMETTI, ALBERTO: Die Frau auf dem Wagen. Triumph und Tod. Hrsg. von Véronique Wiesinger und Gottlieb Leinz. Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum – Zentrum Internationale Skulptur, Duisburg / Fondation Alberto und Annette Giacometti, Paris / Hirmer Verlag, München 2010. 224 S., 34,90 €.
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