F. M. Esfandiarys jüngst erschienener Roman „Der letzte Ausweis“ ist ein Buch, das auf den ersten Blick wohl irgendwie kaum überrascht. Es reiht sich in problemlos in die thematische Ausrichtung der Gegenwartsliteratur ein, die mehr denn je das Topos der Heimatssuche sich zueigen gemacht hat. Sei es Ingo Schulzes „Adam und Evelyn“, Sibylle Lewitscharoffs rasantes Road-Movie „Apostoloff“ oder Rainer Wocheles „Der General und der Clown“ – Sie alle schicken ihre zumeist innerlich zerrissenen Figuren auf die Suche, an deren Ende jeweils die Hoffnung auf Selbstwerdung und Befreiung steht. Doch in der Moderne erfahrungsgemäß kein leichtes Unterfangen.
Auch Dariusch Aryana, der Protagonist aus Esfandiarys psychologischem Roman, zählt zur typischen Spezies derer, die nicht wissen, wohin sie so recht gehören. „Ich bin verwirrt. Ich bin rastlos. Ich weiß nicht, was ich will“, sind die ersten Worte Aryanas, als er Mitte der 60er Jahre zurück in den Iran, sein Heimatland, kommt. Nachdem er die USA und Europa bereist und dort als Lehrer seine Existenz befristet, zieht ihn ein fast nostalgisches Gefühl in das Land seiner Verwandten zurück. Anstatt des ersehnten Glücks flüchtet er sich in die Einsamkeit. Ferner erscheint ihm der Nahe Osten als befremdlich. Er war ein Weltenbummler, der ankommen wollte und erkennen muss, dass sein Land nicht über das Mittelalter hinausgekommen ist. Zwischen Diktatur, Korruption und der aufkommenden Kulturrevolution wird die Hauptfigur im scheinbar bekannt geglaubten Terrain in höchstem Maße desillusioniert. Nichts ist, wie es einmal war. Welten prallen aufeinander, wenn ein gebildeter Kosmopolit auf die Welt einheimischen Aberglaubens und verhärteter Gesellschaftskonventionen trifft.
Schon früh fasst er den Entschluss, das Land baldmöglichst wieder verlassen zu wollen. Doch einfacher gesagt als getan: Nachdem Aryana bei der Einreise seinen Pass am Flughafen hinterlassen muss, ist er sodann in der Pflicht, einen neuen Ausweis zu beantragen, um erneut den Iran verlassen zu können. Obwohl dies eigentlich keine Schwierigkeit sein sollte, wird die Erteilung eines neuen Ausweises zum absurden Bürokratiespektakel. Mit untertänigster Gastfreundlichkeit wird er von den Beamten von Büro zu Büro geschickt, bis er durch Beziehungen vom Kriegsminister persönlich eine notwendige Beglaubigung für seine Staatsbürgerschaft erhält. Der Irrsinn wird zur nicht mehr enden wollenden Farce. Und dann immer wieder das rituelle Teetrinken der Beamten, die den Protagonisten zur Ruhe und bisweilen zur Korruption anhalten.
Aryana wird zum Nomaden der Amtstuben und Vorzimmer. Sein Weg treibt ihn in die schiere Depression, wenn da nicht das Mädchen Safura wäre, die ihm in ihrer unschuldig zurückhaltenden Aura Mut und Zuversicht bietet. Gleichwohl nimmt all das Bemühen kein gutes Ende. In den Wirren politischer Unruhen wird Aryanas Traum von der Unabhängigkeit rege zermürbt.
Wer in dieser kafkaesken Szenerie eine übliche Behördensatire vermutet, verlässt jedoch kaum die Oberfläche des Romans. Vielmehr offenbart sich die Handlung als Abbild einer inneren Selbstvergewisserung. Fragen wie „Wo ist meine Heimat?“ oder „Worin besteht der individuelle Sinn meiner Existenz?“ bezeichnen hierbei die leitmotivische Idee, die Aryana in das moderne Menschsein hineinwirft. Gerade die bürokratischen Hemmnisse sind Sinnbild heutiger Zerstreuung. Die Welt als Ganzes und ebenso das ersehnte Paradies in einem anderen Land verweisen lediglich auf eine ferne Utopie. Was die Spannung und die Unfassbarkeit des Geschehens dabei noch steigert, findet sich darüber hinaus im knappen Vorwort des Autors: „Für jene, die den Iran nicht kennen, mag die Anmerkung hilfreich sein, dass es sich bei diesem Werk um keine Satire handelt.“ Darin wird deutlich, dass der Autor sein Werk nicht ausschließlich durch psychologische Dichte, sondern ebenfalls durch dramaturgisches Geschick zu komponieren weiß.
Nicht nur die Figur ist zerrissen. Insbesondere deren Weg variiert zwischen Spannungsaufbau, Reflexion und Niedergang. Was diesbezüglich gelingt, ist die Leserlenkung. Mit jeder Seite wächst das Identifikationsbewusstsein. Der Leser wird nicht nur Mitreisender. Vor allem wird er Mitfühlender. Man gönnt es diesem immerfreundlichen Geduldsklaven, endlich anzukommen. Statt des Ausweises, der ersehnten Verheißung, gerät der unpolitische Protagonist jedoch in Spannung politischer Wendezeiten. Aryana ist kein Revolutionär, obwohl er mit kritischem Geist die autokratischen Strukturen einer anachronistischen Ordnung betrachtet. Auf die illusorische Frage, was er als Präsident verändern würde, antwortet Dariusch Aryana: „Ich würde Korruption und Diktatur und Vetternwirtschaft abschaffen.“ Zeit zum Träumen bleibt allerdings kaum. Vielmehr gilt es, einen Alptraum zu bewältigen, der tatsächlich bedrohend real ist.
Wenn Esfandiary die politische Kultur des Irans exemplarisch nachzeichnet, verlässt er bewusst den fiktionalen Raum. Was unglaublich wirkt, folgt der Logik eines in der Gegenwart stark in der öffentlichen Debatte fokussierten willkürherrschaftlichen Regimes. Zudem wagt der Autor den Spagat zwischen persönlicher Charakterstudie und gesellschaftskritischem Dialog, indem er nicht zuletzt gattungspoetologische Dogmen aufbricht. Es ist ein verblüffend geniales Buch, das die Spannung in Figur und Komposition liebt. Gerade die mutige Balance zwischen einerseits psychologischem und andererseits politischem Roman verleiht dem Text eine enorme Entfaltungskraft. Obwohl das Ende etwas zu kurz kommt und manche Nebenfiguren hölzern erscheinen, überzeugt F.M. Esfandiarys ambitioniertes Werk ein Beispiel für ernsthafte und reflektierte Unterhaltungsliteratur. Wenn Literatur zum Lachen und Weinen animiert und es im selben Atemzug uns aufzurütteln vermag, dann wird erst der Text lebendig. „Der letzte Ausweis“ ist voller Tatendrang und mündet in resignativer Ohnmacht, sodass mehr Fragen als Antworten bleiben. Aber gerade Fragen stehen am Beginn jeder Tat.
Von Björn Hayer
Literaturangaben:
ESFANDIARY, FEREIDOUN M.: Der letzte Ausweis. Aus dem Englischen von Ilija Trojanow. Edition Büchergilde, Frankfurt/Main 2009. 244 S., 19,90 €.
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