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„Die Stumme“

Die Geschichte einer Verurteilten von Chahdortt Djavann

© Die Berliner Literaturkritik, 22.06.10

MÜNCHEN (BLK) – Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger. Fesselnd, schockierend, ergreifend: Ein Roman, der unter die Haut geht.

Klappentext: Fatemeh ist fünfzehn Jahre alt. Sie sitzt in einem Iraner Gefängnis und wartet auf ihre Hinrichtung. Wie es dazu kam, vertraut sie einem Tagebuch an – damit niemand ihre geliebte Tante, „die Stumme“, und sie selbst vergessen wird. Die Stumme war nicht von Geburt an stumm. Erst seit sie im Alter von zehn Jahren Zeugin wurde, wie ihr Vater ihre Mutter zu Tode prügelte, kam nie wieder ein Wort über ihre Lippen. Inzwischen ist aus dem kleinen Mädchen eine 29-jährige, attraktive Frau geworden, die nach ihren ganz eigenen Gesetzen lebt: Sie weigert sich, ein Kopftuch zu tragen, kleidet sich in den farbenprächtigsten Gewändern, läuft barfuß. Fatemeh ist fasziniert von dem Freiheitsdrang ihrer Tante, von ihrer Andersartigkeit. Doch in einer Welt, in der die Mullahs regieren, bleibt dies nicht unbestraft. Und als die Stumme sich dem Mann hingibt, den sie liebt, kommt es zur Katastrophe – zu einer Katastrophe, die auch Fatemehs Schicksal besiegeln wird…

Chahdortt Djavann, 1967 im Iran geboren, verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Teheran. Djavann war zwölf Jahre alt, als Khomeini 1979 im Iran die Macht ergriff, Terror und Gewalt in ihr Leben drangen und ihr Vater im Zuge der Islamischen Revolution verhaftet wurde. 1993 gelang es ihr, über Istanbul nach Frankreich zu fliehen, wo sie Sozialwissenschaften studierte. Chahdortt Djavann ist Autorin mehrerer Sachbücher und Essays über die Gefahren des Islamismus. Nicht nur ihre schriftstellerischen Werke, die in Frankreich auf der Bestsellerliste landeten, sondern auch ihre aktive Beteiligung an der Kopftuchdebatte etablierte sie über Frankreichs Grenzen hinaus zur anerkannten und vielzitierten Islam-Expertin. Chahdortt Djavann lebt heute in Paris. (guz)

Leseprobe:

©Goldmann Verlag©

Im September bekam ich einen Brief aus dem Iran. Da ich dort niemanden kannte, hielt ich es zunächst für eine Verwechslung, aber auf dem Umschlag stand mein Name. Der Absender auf der Rückseite war in persischen Lettern geschrieben. Zwar war auf beiden Seiten des Umschlages blaue Tinte verwendet worden, es war aber nicht dieselbe Tinte. Die Adressen waren von unter schiedlichen Personen mit verschiedenen Füllern geschrieben worden. Heute erscheint es mir wichtig, meinem Bericht diesen Brief vorauszuschicken.

Madame,

ich bin Berichterstatterin und arbeite derzeit im Iran. Ich lasse Ihnen über diplomatisches Gepäck ein Päckchen zukommen, das Sie in einigen Tagen erhalten müssten. Es enthält zwei Manuskripte: Das eine, das Original, ist auf Persisch geschrieben, das andere ist die Übersetzung. Der Bericht wurde von einem fünf-zehnjährigen Mädchen im Gefängnis verfasst und erzählt eine wahre Geschichte. Ein wundersamer Zufall hat mir diesen Text in die Hände gespielt. Ich habe die Übersetzung mit Hilfe eines iranischen Schriftstellers angefertigt, eines Spezialisten für westliche Literatur, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben möchte. Ich habe mir die Freiheit genommen, am Ende der Geschichte einige Zeilen hinzuzufügen, die erläutern, unter welchen Umständen der Bericht in meine Hände gelangt ist. Ich habe mir gedacht, Sie könnten an einer Veröffentlichung interessiert sein, und hoffe sehr, ich habe mich nicht getäuscht. Mit freundlichen Grüßen C. J.

Der Brief machte mich neugierig. Zwei Wochen später kam das Päckchen. Und tatsächlich enthielt es ein mit Maschine geschriebenes Manuskript sowie ein Heft, das in kleiner, gedrängter Handschrift vollgeschrieben war – kein Rand, wenige Streichungen und weder Einzüge noch Absätze. Der Anblick dieser Seiten, die eng mit fremdartigen Worten beschrieben waren, deren Bedeutung sich mir völlig entzog, ließ eine seltsame Beklemmung in mir aufsteigen. Auf den letzten Seiten wurde die Schrift sogar noch schmaler: Die Verfasserin hatte offenbar nur dieses eine Heft besessen. Die Übersetzung las ich in einem Zug durch. Dann nahm ich das Original wieder zur Hand und blätterte es Seite für Seite durch, ohne es entziffern zu können. Dabei hatte ich einen Kloß im Hals, und das Herz wurde mir schwer; mir war, als würde ich die persische Version ein wenig verstehen, zumindest die Entschlossenheit der Autorin und ihr Leid begreifen, das in dieser fremdartigen Schrift zum Ausdruck kam. Dass eine solche Geschichte wahr sein könnte, wäre für mich unvorstellbar gewesen, hätte ich dieses Heft nicht in Händen gehalten. Keine Frage: Ich würde es veröffentlichen.

Ich bin fünfzehn Jahre alt und heiße Fatemeh, ich mag meinen Namen nicht. In unserem Viertel haben alle einen Spitznamen, meiner ist „die Nichte der Stummen“. Die Stumme war meine Tante väterlicherseits. Ich werde bald hingerichtet. Meine Mutter hat mir den Namen Fatemeh gegeben, denn ich bin am Geburtstag des Propheten zur Welt gekommen, und weil ich ein Mädchen bin, hat sie mich nach Mohammeds Tochter benannt. Sie hätte wohl nicht damit gerechnet, dass ich eines Tages hingerichtet würde. Ich auch nicht. Ich habe den jungen Gefängniswärter angefleht, mir ein Heft und einen Stift zu geben. Er hatte Mitleid und erhörte den letzten Wunsch einer zum Tode Verurteilten. Wo soll ich anfangen? Das kleine Lexikon auf dem Mauervorsprung der Zelle, in der ich über ein Jahr verbracht habe, habe ich  mehrmals durchgelesen. Es hat mir Spaß gemacht, mir die Bedeutungen der Wörter einzuprägen, aber ich erinnere mich nicht an alle Wörter und ihre Bedeutung. Ich habe noch nie etwas geschrieben, abgesehen vielleicht von ein paar Gedichten, etwa zwanzig, aber niemand hat sie je gelesen. In der Schule war ich sehr gut, aber mit dreizehn musste ich sie verlassen. Ich wäre gern dort geblieben und später auf die Universität gegangen. Doch aus meiner Familie, und auch aus meinem Viertel, hat niemand je eine Universität betreten. Dort, wo ich aufgewachsen bin, gibt es nichts außer Elend und Drogen. Keiner entrinnt dort seinem Schicksal. In dieser Welt zerstört die Armut Männer und Frauen, sie macht sie schlecht: Wegen des großen Elends träumen die Menschen nicht einmal mehr.

Mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, war ein sanfter, gut aussehender Mann, aber drogensüchtig. Mit seinen zweiundzwanzig Jahren war er noch ein Träumer, vielleicht träumte er ein bisschen zu viel. Die Stumme war auch schön, sie hatte große strahlende Augen und ein ansprechendes Gesicht. Ich bin weder schön noch hässlich. Obwohl, jetzt, in dieser Zelle, bin ich es wohl doch. Die ersten drei Tage meines Verhörs waren die längsten überhaupt, zweiundsiebzig Stunden ohne Schlaf und ständig Hiebe mit dem Schlagstock. Ich habe unsäglich schwere Verbrennungen, mehrere kaputte Zähne, mein Gesicht ist geschwollen, die Rippen sind gebrochen, und wenn ich atme, tut mir der ganze Körper weh.

Erst jetzt wird mir allmählich klar, dass ich bald hingerichtet werde. Tag und Nacht in dieser engen, leeren Zelle auf den Tod warten zu müssen, geht über meine Kräfte. Ich denke an die Stumme, stelle mir vor, sie wäre an meiner Seite, sie würde mir helfen, nicht verrückt zu werden, die Schmerzen und die Angst zu ertragen. Ich schreibe, damit sich jemand an mich und die Stumme erinnert, denn ich habe Angst, einfach so zu sterben, ohne etwas zu hinterlassen. Vielleicht liest eines Tages jemand dieses Heft. Vielleicht wird mich eines Tages jemand verstehen. Ich suche keine Bestätigung, nur Verständnis.

Dem Wärter graut es sicher vor meinem Gesicht, aber auch vor meinem Stöhnen. Manchmal ist der Schmerz unerträglich. Heute hat er mir ein kleines Papiertaschentuch zugesteckt. Zuerst dachte ich, damit ich mir die Nase putzen kann. Das fand ich sehr aufmerksam und habe mich bedankt. Aber dann stellte ich fest, dass es nur ein halbes Taschentuch war, zerknittert, leicht schwarz. Und darin eingewickelt ein winziges Stück Opium. Der Wärter sieht nicht aus wie einer von hier, wenn er so etwas wagt, kommt er sicher aus einer großen Stadt. Ich fühle mich ganz eigenartig, solche Empfindungen hatte ich noch nie zuvor. Als ich verhört wurde, habe ich kein Wort gesagt. Ich habe die Schläge ertragen, ohne zu schreien, und so getan, als wäre auch ich stumm. In diesen drei Tagen habe ich das hartnäckige Schweigen begriffen, in das sich meine Tante geflüchtet hatte. Die Absolutheit, mit der sie sich in dieses Schweigen eingemauert hatte, flößte den anderen manchmal Angst ein, forderte ihnen aber auch Respekt ab. Schweigen heißt vielleicht, die Wahrheit nicht zu verraten. Am Ende nannten wir sie die Stumme. War sie es wirklich? Das wusste niemand so genau, sie war nicht immer stumm gewesen. Bis zu ihrem zehnten Geburtstag hatte sie gesprochen. Später hatte sie es wie keine andere verstanden ihr Schweigen beredt zu machen. Freude, Traurigkeit, Hass, Liebe, Zärtlichkeit, Wut, Empörung, Hoffnung und Verzweiflung waren in ihren Blicken zu lesen, in jedem ihrer Züge, in ihrer Art, aufzustehen und zu gehen oder auch sitzen zu bleiben, darin, wie sie zuhörte und einen mit ihrem Blick streichelte. Was sie ohne Worte sagte, konnte selbst der dümmste Analphabet aus ihrem Gesicht ablesen. Sie fehlt mir. Zwar ist sie verstummt, aber ihr Herz hat sich nie verschlossen. Sie hat sich für das Schweigen entschieden. An dem Punkt, an dem ich nun angelangt bin, habe ich das Bedürfnis, ja die Pflicht, ihre Geschichte zu erzählen.

Taub war sie nicht. Sie hörte, verstand alles, was man ihr sagte. Sie war auch nicht verrückt, selbst wenn ihr Benehmen häufig seltsam war. Sie war nicht apathisch, auch wenn sie es endgültig aufgegeben hatte zu sprechen. Trotz ihres Stummseins, verstand sie es die seltenen Momente von Zärtlichkeit im Leben wahrzunehmen und aufmerksam, wachsam, präsent zu sein. Am ersten Tag meines Verhörs bekam ich meine Regel, früher als üblich – sicher weil ich unter Schock stand und wegen all der Gewalt, die ich erfuhr. Als einer meiner Folterer es bemerkte, schrie er: „Diese Nutte pinkelt Blut! Ich werde dir zeigen, was es heißt, Blut zu pinkeln!“, und schlug mich windelweich. Ich fürchtete, er würde mir mit seinen Tritten den Bauch aufreißen, als hätte ich ihn mit meiner Blutung provoziert. Ich hatte schon immer geahnt, dass mir die Regel nur Ärger einbringen würde. Damals war ich knapp zwölf Jahre alt und kam gerade aus der Schule. Auf dem Nachhauseweg spürte ich, mitten auf der Straße, ein unangenehmes Gefühl, eine Art Ziehen im Unterleib. Meine Unterhose war feucht und die Innenseite meiner Schenkel klebrig. Ich ging schneller, und als ich zu Hause ankam, stürzte ich auf die Toilette. Blut rann an meinen Schenkeln hinab. Ich hatte schon davon gehört, dass Frauen regelmäßig bluten, aber unter Klassenkameradinnen darüber zu reden war etwas ganz anderes, als es zu erleben. Ich geriet in Panik. Ich kann nicht sagen, warum, aber ich fühlte mich schmutzig, schuldig. Sich von der Kindheit, oder zumindest von dem, was davon übrig geblieben war, zu verabschieden und ein für alle Mal zur Frau zu werden, war in unserer Gegend kein Geschenk. Ich blieb eine Weile im Bad eingeschlossen, das kalte Wasser tat mir gut. Schließlich musste ich rauskommen, weil mein kleiner Bruder an die Tür klopfte. Ich hielt mich tapfer. Meine Mutter war gerade dabei, Wäsche zu waschen. Als ich sah, wie sie den Hemdkragen meines Vaters rubbelte, wurde mein Schuldgefühl wegen der blutigen Unterhose noch stärker. Ich traute mich nicht, es ihr zu sagen, obwohl sie nie gewalttätig gewesen war. Sie hat mich nie geschlagen, aber ich habe mich ihr nie nahe gefühlt. Ich wollte nicht werden wie sie, in keinerlei Hinsicht, niemals. Ich wollte nicht, dass sie ihresgleichen in mir sah: eine Frau unseres Viertels. Ich glaubte an eine andere Bestimmung. Mag sein, dass ich in dem Moment nicht genau das dachte, aber ich fühlte mich hilflos, weil ich nun eine Frau war. Noch immer stand ich mit überkreuzten Beinen vor der Toilettentür. Da stand die Stumme auf, kam auf mich zu und gab mir eine Binde. Ich nahm sie, und wir schauten uns in die Augen, ich voller Dankbarkeit und sie zärtlich und verständnisvoll. Mit der Hand strich sie mir über die Wange. Die kurze Berührung gab mir Kraft und eine Gelassenheit, die meineHilflosigkeit aufwog. Heute habe ich wieder Blutungen, doch die Stumme ist schon lange nicht mehr da. Alle möglichen Bilder rasen mir durch den Kopf und verwirren mich, aber ich muss weitermachen. Lieber Gott, gib mir die Kraft, diesen Bericht möglichst zusammenhängend zu Ende zu bringen.

Ich habe den Wächter gefragt, ob er nicht noch ein Opiumstückchen für mich hat. Und er hat geantwortet, er würde mir am Nachmittag eins bringen. Er hat schöne honigfarbene Augen.

Mein Vater war weder drogensüchtig noch gewalttätig, er nahm unsere Armut und Ohnmacht demütig hin. Er war ein wenig grobschlächtig, wie Bauarbeiter es häufig sind, konnte aber auf seine Weise, wenn auch selten, zärtlich sein. Einmal sagte er, ich würde der Stummen in mancherlei Hinsicht ähneln, ich hätte denselben Charakter; und sie sei, wie ich, sehr gut in der Schule gewesen. Ich wusste, dass er schon mit vierzehn Jahren, nach dem Tod seiner Mutter, angefangen hatte, auf dem Bau zu arbeiten, um für seine Schwester zu sorgen. Immer wieder hatte ich ihn nach seiner Schwester gefragt, aber jedes Mal war er mir ausgewichen.

Am zwanzigsten Todestag meiner Großmutter gingen wir wie jedes Jahr auf den Friedhof. Die Stumme war zu Hause geblieben. Sie verließ das Haus nie, nicht einmal, um ans Grab ihrer Mutter zu gehen. Als wir zurückkamen, setzte sich mein Vater in den kleinen Hof hinter dem Raum, den wir bewohnten. Jedes Frühjahr versuchte meine Mutter, dort Kräuter zu züchten, aber sie gediehen nie. Mein Vater sagte: „Dir fehlt der grüne Daumen“, das kränkte sie. Ich betrachtete meinen Vater, der nachdenklich und seufzend an seiner Zigarette sog, und setzte mich neben ihn. Warum die Stumme stumm geworden war, wollte ich wissen. Und an diesem Tag erzählte er mir, dass ihr Vater drogensüchtig gewesen war – wie die meisten Männer im Viertel – und sie oft geschlagen hatte. Er konnte sehr brutal sein, wenn er auf Entzug war. Vor auf den Tag genau zwanzig Jahren war er spät nach Hause gekommen und hatte angefangen, herum zukrakeelen. Mein Vater, damals noch Teenager, war aufgestanden und aus dem Haus gegangen, weil er das Gebrüll nicht mehr ertragen konnte. Als er am nächsten Morgen in aller Frühe zurückkam, sah er seine Mutter mit dem Tode ringen und seine Schwester halb gelähmt in einer Ecke liegen. Auf der Polizeistation bestritt der Vater, sie geschlagen zu haben. Und als der Polizist meine damals zehnjährige Tante befragte, schaute sie ihren Vater an, machte aber den Mund nicht auf. Ihre Mutter starb an inneren Blutungen.

Nach drei Monaten Gefängnis wurde mein Großvater entlassen, sechs Monate später starb er an einer Überdosis. Mein Vater sorgte für seine Schwester, er brachte sie sogar zwei Mal zu Ärzten, die ein schweres Trauma diagnostizierten. Sie weigerte sich strikt, gegen ihren Vater auszusagen, und hat seitdem nie mehr ein Wort gesprochen. Mein Vater hoffte lange, sie könne geheilt werden. Wochen, Monate, Jahre vergingen, doch meine Tante fand die Sprache nie wieder. Er versuchte, ihr Gebärdensprache beibringen zu lassen, aber meine Tante blieb hartnäckig und brach ihr Schweigen nicht. Mein Vater fühlte sich schuldig, denn hätte er damals das Haus nicht verlassen und Schwester und Mutter nicht alleine gelassen, wäre nichts passiert. Er hätte eingreifen und den Vater daran hindern können, die Mutter zu verprügeln. Was mich an jenem Tag berührte, mehr als die Geschichte selbst, war die Stimme meines Vaters. Sie war völlig gefühllos. Er sprach so, als sei Gewalt eigentlich etwas völlig Banales, das alltägliche Los derer, die im Elend leben und sterben. Meine Mutter führte oft einen Spruch im Munde, der mir damals auf die Nerven ging: „Niemand kann gegen sein Schicksal an, jeden trifft das Los, das ihm gebührt, so ist das Leben.“ Ich weiß noch, in jener Nacht war Vollmond, und ich konnte nicht schlafen. Auf dem Vorhang mit dem Rautenmuster, den meine Mutter als Raumteiler aufgehängt hatte, sah ich die Szene vor mir, deren Zeuge meine Tante mit zehn Jahren geworden war, den Mord, der ihr für immer die Sprache verschlagen hatte. Die Stumme lag neben mir, auch sie hatte die Augen geöffnet. Doch die Bilder, die ich auf dem Vorhang sah, verschwanden mit einem Schlag, als das Keuchen meines Vaters und die erstickten Lustschreie meiner Mutter einsetzten, und die Stumme und ich lauschten dem Duett meiner Eltern auf der anderen Seite des Vorhangs.

Mein junger Wärter und Schutzengel hat mir meine Ration Opium gegeben. „Aus welcher Stadt kommst du?“ „Ich darf nicht mit dir sprechen.“ „Aber das hier darfst du mir geben?“, sagte ich und nahm das zerknüllte Taschentuch. Die Stumme war nicht wie die andern, sie glich niemandem. Die Leute hielten sie für verrückt, weil ihr Verhalten widersprüchlich war und sie sich freizügig benahm. Sie setzte sich über sämtliche Verbote hinweg. Erst sehr viel später begriff ich, warum sie so anders war. Sie lief immer mit unbedecktem Haupt herum,

selbst wenn sie die Haustür öffnete, und das, obwohl sich in unserer Gegend nie eine Frau ohne Kopfbedeckung vor der Tür zeigte – ganz gleich, ob sie verrückt, stumm, blind oder glatzköpfig war – aus Angst, von einem Passanten gesehen zu werden.

©Goldmann Verlag©

Literaturangabe:

DJAVANN, CHAHDORTT: Die Stumme. Goldmann Verlag, München 2010. 112 S., 14,95 €.

Weblink:

Goldmann Verlag


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