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Die unbekannten Nachbarn

Die kulturellen Verluste der Minderheiten in Europa

© Die Berliner Literaturkritik, 22.04.10

BERLIN (BLK) — Im August 2008 ist im Ch. Links Verlag das Sachbuch „Die unbekannten Nachbarn. Minderheiten in Osteuropa“ von Ruth Leiserowitz erschienen.

Klappentext: Alle osteuropäischen Länder sind geprägt durch die Existenz zahlreicher Minderheiten. Ihr Leben, ihre Kultur und Geschichte haben diese über Jahrhunderte hinweg bereichert und auch miteinander verbunden. Gerade durch sie verwandelte sich Osteuropa einstmals in eine vielfarbige, kulturell reiche Landschaft mit funktionierenden Nachbarschaften. Doch diese einzigartige Pluralität wurde in der Mitte des letzten Jahrhunderts zerstört. Der Zweite Weltkrieg hat mit seinen Umsiedlungsaktionen und den nachfolgenden Grenzverschiebungen und Blockbildungen viele Landschaften politisch und kulturell zerrissen. Die sozialistische Staatsideologie überlagerte die jeweiligen Kulturtraditionen. Erst allmählich beginnt eine Rückbesinnung auf die spezifischen Lebensarten und deren Wiederbelebung.

Ruth Leiserowitz, Jahrgang 1958, Bibliotheks- und Verlagsangestellte, Übersetzerin, 1990–1996 Studium der Geschichte und Polonistik in Berlin und Vilnius, 1996–1999 wiss. Mitarbeiterin am Thomas-Mann-Kulturzentrum Nida / Litauen, 1997 Promotion, seit 1996 Lehrbeauftragte an der Universität Klaipeda, seit 2001 Forschungsprojekte an der HU Berlin und der FU Berlin, 2007 Habilitation. Zahlreiche Veröffentlichungen zur osteuropäischen Geschichte. (mül)

Leseprobe:

© Ch. Links Verlag ©

Seit dem 21. Dezember 2007 können wir aus Deutschland ohne eine einzige Passkontrolle bis in die estnisch-russische Grenzstadt Narva reisen, in das galizische Medyka bis kurz vor das ehemalige Lemberg, nach Košice und weiter bis an die Waldkarpaten oder an die kroatische Grenze. Wir können nun einen größeren europäischen Raum in Richtung Osten und Sudosten barrierefrei durchqueren. Dabei bewegen wir uns nun durch ein Territorium, das wir als Aneinanderreihung unterschiedlicher Staaten betrachten und kaum als Ganzes. Wir können es kaum als Einheit wahrnehmen, da es in dieser Gestalt bisher nicht in unserem Gesichtsfeld lag. Verbindet die zahlreichen verschiedenen Länder Polen, Tschechien und die Slowakei mit Ungarn und den drei baltischen Staaten etwas Gemeinsames, das über die Klammer der sowjetisch geprägten Ostblockerfahrung hinausreicht? Ja, es gibt verbindende Elemente und Phänomene.

Eines, das alle jetzt miteinander teilen, ist die Gemeinschaft des europäischen Raumes. Hier ist die Grundlage für eine gleichberechtigte Nachbarschaft in Europa gelegt worden, die jetzt allmählich entstehen kann. Hier haben wir den geographischen Raum, in dem sich die „Unvereinigten Staaten von Europa“ (so der Filmemacher Cedric Klapisch) entfalten können. Ein weiteres herausragendes und verbindendes Phänomen ist die Existenz zahlreicher Minderheiten in allen diesen osteuropäischen Ländern. Ihr Leben, ihre Kultur und Geschichte haben viele kleine mittel- und osteuropäische Winkel und Regionen über lange Jahrhunderte geprägt, bereichert und auch miteinander verbunden. Gerade durch sie wurde Osteuropa einstmals zu einer vielfarbigen und kulturell reichen Landschaft. Die Vielfalt dieser Kulturen, ihre Heterogenität, ihre reiche Differenziertheit und ihre Verwobenheit bewirkten eine einzigartige Pluralität, die in der Mitte des letzten Jahrhunderts zerstört wurde. Zusätzlich geriet das Wissen über dieses ehemalige dichte kulturelle System in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in fast vollständige Vergessenheit.

Wie konnte das geschehen? Der Leser des vor uns liegenden Bandes wird nach der Lektüre mehr Fragen als Antworten haben und er wird beginnen zu begreifen, dass das östliche Europa durch den Zweiten Weltkrieg und in dessen Folge weitaus tiefgehender beschädigt und verändert wurde, als gemeinhin angenommen wird. Nach diesem Krieg konnte Ostmitteleuropa zu keiner wie auch immer gearteten oder vorgestellten Normalität zurückkehren, denn der Eiserne Vorhang riss Regionen auseinander, die jahrhundertelange enge Beziehungen gepflegt hatten. Es kam nicht nur zu einer einfachen Teilung Europas bzw. Abschottung des nun entstandenen sowjetischen Blockes. Die UdSSR riegelte sich inklusive der von ihr besetzten Gebiete, der nun entstandenen estnischen, lettischen, litauischen und moldawischen Unionsrepublik fast hermetisch von den übrigen Staaten ab, so dass Ostmitteleuropa gleich mehrfach auseinander gerissen wurde und die zahlreichen lebendigen Kommunikationsstränge, die konstitutiv für das gesamte östliche Europa gewesen waren, brachgelegt wurden. Zusätzlich zu der Unterbindung der Kommunikation kam es aus weiteren Ursachen zu grundlegenden Veränderungen im Profil dieses Teils von Europa. Denn große und deutlich wahrnehmbare Minderheitengruppen waren nach 1945 nicht mehr existent.

Die osteuropäischen Juden waren fast vollständig umgebracht worden, die deutsche Minderheit war am Ende des Zweiten Weltkrieges geflohen, wurde wie in Rumänien und Ungarn zum Teil in das Innere der Sowjetunion deportiert oder während des darauf folgenden Jahrzehnts unter wechselnden Umständen mit zeitweise drastischen Methoden ausgesiedelt. Auch die polnische Minderheit wurde aus den östlichen Gebieten, die nun zur UdSSR gehörten, vertrieben. Diese polnischen Vertriebenen fanden sich plötzlich in den neuen polnischen Nord- und Westgebieten, in Ostpreußen, Schlesien und Pommern wieder. Die Reste der noch existierenden Minderheiten sollten sich nach dem Willen der neuen Machthaber nicht oder nur äußerst marginal artikulieren können. Die Umstände der unterschiedlichen Umsiedlungsaktionen durften zumeist in der Gesellschaft weder öffentlich thematisiert noch gar debattiert werden. In diesem Zusammenhang gerieten auch die Erinnerungen an die ehemaligen Heimatregionen zu politisch missliebigen Themen.

Häufig wurden die Umgesiedelten auch politisch diffamiert und von vornherein mit dem Etikett des Revanchismus belegt. So versuchten sie zumeist, sich den neuen Verhältnissen anzupassen, was vorrangig bedeutete zu schweigen, seine eigene Herkunft zu verschweigen. Das führte mehrheitlich dazu, dass Kindern und Enkelkindern nur noch dürftige Kurzfassungen der Familiengeschichte vermittelt wurden. Ganze europäische Regionen wie beispielsweise die Waldkarpaten, Ostpreußen, das Sudetengebiet oder die „schwäbische Turkei“ in Sudungarn gerieten aus dem Blickfeld und wurden allmählich zu weißen Flecken in der europäischen Geschichte.

© Ch. Links Verlag ©

Literaturangabe:

LEISEROWITZ, RUTH: Die unbekannten Nachbarn. Minderheiten in Osteuropa. Ch. Links Verlag, Berlin 2008. 288 S., 19,90 €.

Weblink:

Ch. Links Verlag


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