MÜNCHEN (BLK) – Der Carl Hanser Verlag veröffentlicht das Lesebuch „Glück – welches Glück“, das von Beate Hentschel und Gisela Staupe herausgegeben wurde.
Klappentext: In diesem Lesebuch beschreiben prominente Autoren die unterschiedlichen Aspekte des Glücks. Es erscheint parallel zu einer Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden, die im Frühjahr 2008 Kunstwerke, historische Dokumente und alltägliche Fundstücke aus verschiedenen Epochen und Weltgegenden zeigt, die jedes für sich einen Aspekt des Traums vom Glück repräsentieren. Mit seiner schönen Ausstattung erfreut der Band die Sinne genauso, wie der Verstand durch die Texte angeregt wird. Mit Beiträgen von Kathrin Passig, Helene Karmasin, Bruno S. Frey (mit Alois Stutzer), Josef H. Reichholf, Birger P. Priddat, Ruut Veenhoven, Gerhard Schulze, Friedrich Wilhelm Graf, Barbara Mittler und Manfred Spitzer. (tan/wip)
Leseprobe:
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Glück: Selbst wer das Thema nicht mehr ertragen kann, genervt von Werbung, Verpackungsmüll, Prominenten ganz privat und Vorweihnachtszeiten ohne Ende, wird ihm nicht entgehen, nicht einmal Thomas Bernhard ist dies gelungen, nicht Adorno, nicht den bösen Rappern aus der Bronx und nicht den Regisseuren der guten alten Blut- und Desillusionierungsfolklore im deutschen Theater. Schlechte Laune, kulturkritische Arroganz, Wut als Kunstform oder angemaßte Entlarvung als Beruf heben das Thema Glück nicht auf, sondern hervor. Man entflieht ihm auch nicht, wenn man lieber zu Hause bleibt, statt sich im glücksverheißenden All-inclusive-Pferch eines Tourismuskonzerns einhegen zu lassen, von Animateuren über Lautsprecher bis ins Zimmer hinein verfolgt, oder wenn man dem Personal im Frühstücksraum eines Hotels die Vergünstigung einer musikfreien halben Stunde abringt. Es ist auch ganz gleichgültig, ob man Glück dazu sagt oder Sinn, Genuss, schönes Leben, Gelassenheit, Ekstase, Erlebnis, Gefühl, Fitness, Wellness oder gar nichts.
Dass sich das Glück nicht definieren lasse, dass niemand wisse, worin es besteht, dass man es zerstöre, indem man es suche, gehört ebenso zum murmelnden Singsang der großen modernen Glücksbeschwörung wie die Versuche, das Ungreifbare doch irgendwie zu fassen zu kriegen: die weisen Ratschläge, die Erkenntnisse (etwa – wer hätte es gedacht! – dass Geld allein nicht glücklich mache), die Alltagsgespräche, das Shopping und die Odyssee der Intimität. Und wie die bellenden Hunde zur Karawane gehören zu all dem auch die Glückskritiker: die asketischen Verächter des Hedonismus, die dünkelhaft über den Massen schwebenden Erhabenen, die Moralpäpste, die fundamentalistischen Hasser des sündigen westlichen Lebensstils, nicht zuletzt die Angegriffenen selbst, wenn sie mit einem kleinen Schamgefühl auf all dies reagieren, als wären sie Süchtige, die sich voller Selbstvorwurf doch täglich ihren Stoff zuführen. Wie auch immer, alles kreist ums Glück.
So kann man sich also irren: Nicht Versklavung ist das Schicksal der Menschen in der weit fortgeschrittenen Moderne, nicht Siegfried Gideons Herrschaft der Maschine, nicht Max Webers ehernes Gehäuse, nicht der von der kritischen Theorie befürchtete Triumph der Mittel über die Ziele, sondern komfortable Ratlosigkeit, unentrinnbare Freiheit, schöpferisches Herausgefordertsein unter dem Risiko der Lächerlichkeit, auf der Flucht vor der klammheimlichen Blamage vor dem Richterstuhl der eigenen Ansprüche: zu dumm zu sein, etwas aus seinem Leben zu machen.
In der fortgeschrittenen Moderne, so zeigt sich jetzt, ist das Thema Glück unvermeidlich, wenn auch noch unbewältigt. Galt zunächst lange Zeit der Fabrikschlot als Symbol der Moderne, so wurde schließlich der Computer zum Logo der Ultramoderne. Doch beide Ikonen scheinen nicht nur heute antiquiert, sie waren es schon immer, weil sie die Pointe der Moderne verfehlten. Sie machten das Mittel zum Fetisch und blendeten den Zweck aus – das bessere Leben. Sie verwiesen immer nur auf die Arbeit der Steigerung, als ob nicht jede Steigerung zur Frage führte, was denn nun mit den neuen Möglichkeiten anzufangen sei. Die Symbole der Moderne fixierten das Können und ignorierten das Sein; sie erinnerten an die objektiven Bedingungen und blendeten das Ernten der Früchte aus.
Im Lateinischen gibt es dafür zwei Worte, wo im Deutschen nur eines ist: Fortuna und Felicitas. Beides ist mit „Glück“ zu übersetzen, doch das eine Mal sind die Lebensumstände gemeint, das andere Mal das Leben selbst. Glück 1 ist das Mittel, Glück 2 der Zweck. Glück 1 hat objektiven, Glück 2 subjektiven Charakter. Für beides braucht man Fähigkeiten, die Lichtjahre auseinander liegen. Glück 1 ist eine Sache für Ingenieure, Manager, Wissenschaftler und Arbeitstiere, Glück 2 eine Sache für Lebenskünstler, Leidenschaftliche, Selbstvergessene und Bummler. Das eine erfordert Nüchternheit, das andere Phantasie. Das eine verlangt Abstraktion, das andere die Kunst der Begegnung mit dem Einzigartigen. Das eine hat mit Empirie und Logik zu tun, das andere mit Poesie und Spiel.
Getrennte Welten, bewohnt von Glücksspezialisten? Die Selbsterfahrung der Menschen im Zeitalter der weit fortgeschrittenen Moderne läuft auf ein zögerndes, ungläubiges Nein hinaus. Sie fühlen sich zu beidem herausgefordert, zu Fortuna und Felicitas, so unterschiedliche Fähigkeiten sie auch für das eine und das andere brauchen. Tastend suchen sie den Weg zum zweidimensionalen Leben, in dem nicht der Realist dem Träumer gegenübersteht, sondern beide in einer einzigen Person zusammenfinden, im zweidimensionalen Menschen, der beides kann: analysieren und empfinden.
Welch ein Irrtum es war, die Moderne als Projekt der Trennung von Kalkül und Gefühl aufzufassen, wird erst jetzt allmählich sichtbar. Je weiter das Kalkül bei der Perfektionierung der Mittel kam, desto unabweislicher brachte sich die Frage nach dem Gefühl in Erinnerung. Am Anfang der Moderne herrschte der Elan der Eroberer; ihr Blick richtete sich nach außen, auf die Grenzen der Möglichkeiten und darüber hinaus. Nun aber wandert der Blick nach innen: Was will ich eigentlich mit all dem? Wo auch immer man sich aufhält, im Internet, im Supermarkt, im Straßenverkehr, im Café, in der neuen Wohnung, vor dem Fernsehgerät oder im Bett mit einem Partner – man braucht Antworten auf diese Frage.
Das Selbermachen des Glücks war die begeisternde Idee am Anfang der Moderne. Sie wurde für die Menschen des Westens freilich inzwischen so selbstverständlich, dass sie ihre Bedeutung nur noch spüren, wenn das Selbermachen des Glücks zu misslingen scheint. Sie haben, wie Geert Mak es ausgedrückt hat, ein Verhältnis dazu wie zum Wasser, das aus der Leitung kommt. Man nimmt keine Notiz davon, wenn es fließt, aber wehe, es wird einem abgedreht. In Wachstumszahlen verdichtet sich das Selbermachen des Glücks zu einem kollektiven Indikator. Die Beunruhigung der Öffentlichkeit bei jedem Rückgang des Wachstums ähnelt der Verstörung beim tröpfelnden Versiegen der Dusche, wenn man sich gerade die Haare eingeseift hat. Doch der Indikator führt in die Irre; gerade das langjährige Wachstum hatte zur Folge, dass es als Gradmesser für das Gelingen des modernen Glücksprojekts unbrauchbar wurde. Das Selbermachen des Glücks jenseits der Not ist in einer anderen Werkstatt anzugehen, und das Produkt heißt nicht mehr Fortuna, es heißt Felicitas. Während sich nun die Menschen des Westens zögernd, aber unbeirrbar die Frage stellen, wie man sein Glück in dieser ganz anderen Werkstatt macht, in der alte Meisterschaft nichts bringt, schicken sich weitere Milliarden von Menschen, aus der Not kommend, voll Enthusiasmus und Energie an, sich dem Projekt Fortuna zuzuwenden, in China, Indien, Russland, Brasilien und anderswo. Bald werden sie das Stadium hinter sich lassen, in dem man sich leicht darüber verständigen kann, was »besseres Leben« eigentlich bedeutet: Mobilität, Sicherheit, Gesundheit, gute Wohnbedingungen und genug zu essen. Die Anschlussfrage wartet schon auf sie: Was willst du jetzt eigentlich mit all dem? Auch ihnen steht der große Themenwandel bevor, der jetzt den Westen erfasst.
Das neue Thema als „postmodern“ abzutun, als ein Anliegen jenseits der Moderne, ist ein großes Selbstmissverständnis unserer Zeit. Unter kräftiger Mithilfe kulturkritischer Meinungsführer wurde einst das Ziel der Moderne als ihr Jenseits umgedeutet: Doch Kalkül und Gefühl, Können und Sein, Glück 1 und Glück 2 verweisen aufeinander. Trennt man sie, landet man im Absurden. Angekommen wäre die Moderne, wenn sie beides zu verbinden wüsste – wenn sie zweidimensional würde. Genau dies – und nicht eine endlose Serie weiterer Steigerungen – ist der ausstehende Reifungsschritt der Moderne, von vielen geahnt und gespürt, aber noch nicht auf den Begriff gebracht und weit davon entfernt, so fest im Alltagsbewusstsein verankert zu sein wie die Zielbegriffe der ersten Reifungsphase – technische Innovation und politische Freiheit.
Zwar kamen in der Geschichte der Moderne regelmäßig neue Propheten von Felicitas auf die Bühne, Pietisten, Romantiker, Wandervögel und Mystiker von Heimat, Blut und Boden. Aber nicht nur, dass sie sich immer antimodern gebärdeten, sie waren auch Wiedergänger ohne Chance auf dauerhafte Oberherrschaft. Das Ideal des auf Fortuna ausgerichteten Verstandesmenschen hielt sich hartnäckig oben, einem schwimmenden Korken ähnlich, der sich von den Feinden des Rechnens, Optimierens und Rationalisierens nicht lange unter die Oberfläche drücken ließ und der auch heute wieder oben schwimmt.
Zwischen Fortuna und Felicitas geht ein ungleichmäßiger Pendelschlag hin und her. Das Voranschreiten der Moderne gleicht einem hinkenden Gang, mit einem kräftigen, die Hauptlast tragenden Bein und einem nachgezogenen, schwächlichen, gleichwohl zum Treten, Ausschlagen und Aufstampfen neigenden Bein: Fortuna und Felicitas, Fortuna und Felicitas, Fortuna und Felicitas…
Doch nur auf dem starken Bein hüpfend wäre die Moderne nicht weit gekommen. Es wäre ihr gegangen wie jenen Patienten der Neurochirurgie, bei denen die Nervenleitung zwischen den Hirnarealen der analytischen Intelligenz einerseits und der Emotionen andererseits durchtrennt werden musste – die Moderne hätte nicht gewusst, was sie will, sie wäre handlungsunfähig gewesen. Die reine instrumentelle Vernunft kann alles, nur eines nicht: Sie kann sich keine letzten Ziele geben, sondern immer nur Zwischenziele. Der iPod ist nur eines von zahllosen Beispielen für die Triumphe der instrumentellen Vernunft, die ohne ein Bezugssystem außerhalb der instrumentellen Vernunft buchstäblich nicht denkbar gewesen wären. Kein iPod ohne Musik; keine Automobilbranche ohne Romantik; kein Internet ohne Neugier, Spieltrieb und Abenteuerlust; kein Supermarkt ohne Sinnlichkeit.
Oft und oft hat sich die Konstruktion eines Gegensatzes von Fortuna und Felicitas erneuert: Romantik gegen Aufklärung, Erweckungsbewegungen gegen moderne textkritische Theologie, linke gegen rechte Gehirnhälfte, Naturwissenschaft gegen Geisteswissenschaft, System gegen Lebenswelt, der Westen gegen den edlen Wilden, Technik gegen Natur, Arbeit gegen Freizeit und sogar Mann gegen Frau. Wohlgemerkt: Es war gerade von antagonistischen Konstruktionen die Rede, also von Wirklichkeitsmodellen. Niemand kann beanspruchen, solche Konstruktion durch die Wirklichkeit selbst zu ersetzen. Man kann nur darüber diskutieren, ob es nicht bessere Modelle gibt, lebenstauglichere.
Der Gegensatz zwischen Fortuna und Felicitas ist nichts weiter als eine Vorstellung. Diese hat lange Zeit den Rahmen abgegeben, um das Thema in immer wieder neuen Varianten zu bearbeiten. Mal siegten die Techniker, mal die Tänzer. Manche Lebensläufe waren eine Folge von Kehrtwenden: Anfang als Gefühlsmensch in der frühen Kindheit; dann zögerndes, jahrelanges Erlernen von Gefühlskontrolle und kalkulierender Vernunft, im Erfolgsfall Karriere; dann Ausstieg und Bewegung in die Gegenrichtung, Suche nach Sinn, Selbst, Selbstvergessenheit, Spiritualität oder, um eine häufig gebrauchte Umschreibung aufzugreifen, nach dem Eigentlichen; dann Ausstieg aus dem Ausstieg und Versuch, wieder im normalen westlichen Leben Fuß zu fassen.
Mit der Brille des Gegensatzmodells betrachtet, sind solche Biographien Wechselbäder. Geht man jedoch auf größere Distanz und wählt man eine abstraktere Betrachtungsweise, so tritt eine Gleichförmigkeit zutage, die darin besteht, dass sich der Mensch immer nur an einem der beiden Pole sieht. „Was denn sonst?“, könnte man fragen. Eine Antwort auf diese Frage scheint in einem Buchtitel von Herbert Marcuse auf: Der eindimensionale Mensch. Der Begriff ist kritisch gemeint, er fordert dazu auf, nicht eindimensional zu sein.
Logischerweise müsste Marcuse in seinem einflussreichen Buch mindestens den zweidimensionalen Menschen propagieren. Doch davon ist im Text nichts zu finden. Marcuse kommt nicht auf die Höhe seines eigenen Begriffs. Was er propagierte und was dann in den Sechziger- und Siebzigerjahren ungeheuren Anklang fand, war doch wieder nur das alte Lied, die alte Eindimensionalität, nur eben wieder einmal anders herum. Die Menschen sollten die Montur der Fortuna-Menschen ausziehen, um als nackte Felicitas-Menschen glücklich zu werden. „Kinder an die Macht“, sang Herbert Grönemeyer. Alle sollten wie Momo im Roman von Michael Ende werden. Das schöpferische, empfindende, unverbildete Kind wurde zum Gegenbild der Zeitdiebe im Nadelstreifenanzug. Alle sollten der Herrschaft der glücksblinden Rationalität abschwören und ihren Gefühlen vertrauen. Fortuna macht Felicitas kaputt. Deshalb auf zum Gegenangriff: Macht kaputt, was euch kaputt macht! Und so forderte Marcuse nichts anderes als das, was er angriff, den eindimensionalen Menschen. Er kam aus dem polarisierenden Denken nicht heraus, und mit ihm seine Jünger. Genau das ist es, was viele heute im Rückblick auf diese Zeit den Kopf schütteln lässt: das Entweder-oder, konkretisiert in Theorien, in Lebensentwürfen mit dramatischen Konversionen, und in Subkulturen, die aus ihrer Borniertheit eine Tugend machten. Marcuses Buch blieb im dichotomen, Gut gegen Böse setzenden Denken befangen, und damit eignete sich Marcuse bestens, zum Papst erhoben zu werden. Etwa gleichzeitig trat ein Parallelpapst auf, Erich Fromm, dessen millionenfach gelesenes Buch das antagonistische Denken in klassischer Prägnanz zum Ausdruck brachte: Haben oder Sein.
Die Worte wechseln, der Inhalt bleibt. „Haben“ ist bei Fromm die Denkwelt des Kalküls, der Technik, der Ökonomie, der instrumentellen Vernunft, die sich um letzte Ziele nicht kümmert, sondern immer nur die Mittel dazu im Auge hat – die Denkwelt von Fortuna. „Sein“ dagegen ist die Denkwelt des Erlebens, des Fühlens, der Kunst, des Glücks. „Haben“ bezieht sich auf das Äußere, „Sein“ auf das Innere. Lebensentwürfe des Habens entfremden uns von uns selbst; Lebensentwürfe des Seins führen uns zu uns selbst hin. Fromms Buch hinterließ tiefe kulturgeschichtliche Spuren; die Menschen lasen es als Offenbarung und versuchten, seine Botschaft im Leben umzusetzen. Sie waren versorgt mit einer klaren Unterscheidung zwischen dem richtigen und dem falschen Leben.
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Literaturangaben:
HENTSCHEL, BEATE / STAUPE, GISELA (Hrsg.): Glück - welches Glück. Hanser Verlag, München 2008. 208 S., 19,90 €.
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