HAMBURG (BLK) – „Ein wenig verlässlicher Kamerad, aber er wird mich wohl über die Stunden tragen“ – so selbstironisch äußerte sich Siegfried Lenz über den Stock, auf den er sich stützte, als er am Sonntagvormittag die Bühne des Ernst-Deutsch-Theaters in Hamburg erklomm. Der 83-Jährige, vielfach preisgekrönte Meister vor allem erzählender Literatur („Deutschstunde“, 1968, „Schweigeminute“, 2008) war gekommen, um auf einer Matinee sein neues Theaterstück „Die Versuchsperson“ (Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg) vorzustellen: zunächst im Interview durch NDR-Landesfunkhausdirektorin Maria von Welser, dann als szenische Lesung mit Schauspielern wie Uwe Friedrichsen, Konstantin Graudus und Theaterchefin Isabella Vertes-Schütter.
Um die Macht des Buches geht es in dem kurzen, humorvollen Alterswerk, das Lenz „einen dialogischen Spaß“ nennt und das in den kommenden Tagen in den Handel kommt. Spaß am Dialog genoss das Publikum ebenfalls beim Gespräch Welsers mit dem spürbar gut aufgelegten, dabei zurückhaltenden Autor, der in Hamburg und Dänemark lebt. Allerdings vermied der in Ostpreußen geborene Lenz dabei geschickt und charmant allzu persönliche Äußerungen.
Sein aktuelles Stück „Die Versuchsperson“ siedelte der Schriftsteller in einer altmodischen kleinen Buchhandlung an. In der Art einer Groteske lässt er darin den Gehalt von Dostojewski und der Bibel, von „Drei Mann in einem Boot“ (Jerome K. Jerome) und „Die Leiden des jungen Werther“ (Goethe) auf menschliches Fühlen, Denken und Handeln prallen. Ein gewichtiger Brockhaus-Band muss zum Beispiel dazu herhalten, einen Räuber schachmatt zu setzen.
Lenz, der sich zeitlebens auch politisch engagiert hat und 1970 mit Bundeskanzler Willy Brandt zur Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrags nach Warschau reiste, sagte, im wahren Leben wirkten Bücher eher „unmerklich, auf Taubenfüßen, still“. Er resümierte: „Man verändert sich dadurch nicht radikal, aber bekommt eine neue Sehweise auf die Realität, neue Bewertungsmaßstäbe.“ Es bleibe „Politik und Diplomatie überlassen, zu handfesten Resultaten zu kommen“.
Zugleich zeigte sich der Autor, der wie etwa Günter Grass und Heinrich Böll die deutsche Nachkriegsliteratur mitgeprägt hat, als tolerant gegenüber Bestsellern und Buchhandelsketten. „Ich würde nie jemandem raten, ein Buch nicht zu kaufen.“ Jeder Leser müsse selbst lernen, dessen aufklärerischen Wert zu beurteilen. Und Gedrucktes sei eben auch eine Ware. Bei der Gelegenheit gestand Lenz, in seiner Jugend seichte Bücher verschlungen zu haben: „Meine ganze Liebe galt der Schundliteratur. Weil ich kein Geld hatte, Bücher zu kaufen, tauschten wir sie in unserer Klasse“, sagte er.
An langem Tisch auf fast leerer Bühne vermittelten neun Darsteller in 60-minütiger Lesung die hintergründige Handlung der „Versuchsperson“. Darin heißt es: „Literatur ist der Speicher für alles Erlebte und Erdachte. In ihr wird alles aufbewahrt: Liebe und Schande, Irrtum und Verhängnis, und natürlich der Traum vom Glück... Die Macht des Buches liegt darin, dass es uns ein Angebot macht: Wir können uns finden oder wiederfinden.“
Von Ulrike Cordes