Von Roland H. Wiegenstein
Es wird wieder erzählt: eine oder mehrere Geschichten, die einen Anfang haben und ein Ende. Aber, war da nicht etwas? „Durch die Herausnahme des Subjekts verweigerte der Autor der Gesellschaft auch die Tröstungen der Literatur und stellte sie als faktisch sprachlos an den Pranger. Die Literatur verstand sich folgerichtig als soziale Radikalopposition.“ So erklärt uns der Autor und Übersetzer Peter O. Chotjewitz Nanni Balestrinis (geboren 1935 in Mailand) seltsames Prosastück „Tristano“, 1966 geschrieben und in der Originalsprache erschienen. Damals gehörte Balestrini zur italienischen Literatur-Avantgarde, er war Zeitschriftenredakteur und wurde jenen linken „Autonomen“ zugerechnet, die die Staatsmacht 1979 endgültig zerschlagen wollten.
Er wurde unter Mordverdacht per Haftbefehl gesucht, floh über die Alpen nach Frankreich, arbeitete beim französischen Verlag Gallimard und wurde erst fünf Jahre später rehabilitiert. Einen Prozess gegen ihn gab es nicht. „Tristano“ ist eine Art von Liebesgeschichte, zu der 1972 die Herausgeberin der französischen Ausgabe Jacqueline Risset schrieb, es handele sich dabei um einen „Vorführapparat“ von zehn Kapiteln mit je zehn Abschnitten, zusammengesetzt „aus allen möglichen Schriftstücken/Aufsätzen über Fotografie und Geografie, ebenso wie Kitschromanen, Zeitungen, Reiselektüre …“.
Die neue Ausgabe, mein Exemplar heißt „Tristano No. 7808“, soll aus 109 Billionen „möglichen Romanen“ gewonnen sein: Die Digitaltechnik moderner Rechner macht’s möglich. Die deutsche Auflage reicht von Exemplar 6000 bis 7999. Doch der Charakter dieser Prosa hat sich nicht sehr verändert. Da gibt es ein C, das eine Person, weiblich oder männlich, sein kann oder ein Ding: Man muss den Zusammenhang beachten, der sich meist jeweils nur über wenige Sätze erstreckt, dann kommt ein neues Zitat, ohne Anführungsstriche natürlich. „Definitiv liquidiert während des Jahres 1945 als die konservativen Mächte bereits solide Positionen für den Erhalt des alten Staates aufgebaut hatten. Lange Pause. Alle meine Freunde sind sich gleich geblieben haben sich nicht im Geringsten geändert die Dinge haben sich jedoch geändert sind in eine andere Richtung gelaufen. C hebt die Schultern. Sie steht müde auf …“ Solche politischen Anspielungen sind eher selten. Es ist offenbar wieder eine lange Pause.
Von dem Versuch einer quasi-objektiven Literatur ist so wenig übrig geblieben wie von den zur selben Zeit unternommenen Versuchen in anderen Ländern, etwa von der österreichischen Gruppe um Gerhard Rühm, den Experimenten in Frankreich (Robbe-Grillet, dem Balestrini, wie Chotjewitz nachweist, viel verdankt) und Deutschland, etwa bei Helmut Heißenbüttel. Einiges hat sich davon gehalten, auch wenn niemand so weit gegangen ist, dem Computer einen Text zur Bearbeitung zu übergeben. Das Subjekt, das diese Autoren alle tilgen wollten, hat sich so energisch wie unübersehbar zurückgemeldet. Und nur dort, wo es dominiert, entsteht so etwas wie Literatur, selbst bei Balestrini. Die kurzen Kapitel erregen freilich nur dort Interesse, wo sie so etwas wie eine Geschichte zwischen Menschen andeuten, die nicht von Algorithmen durcheinandergewirbelt wird.
„Man könnte auch mit einer anderen Begebenheit beginnen und würde zu einer leicht abgewandelten Geschichte kommen. Zum Beispiel. Sie erhob sich und näherte sich langsam der Tür. C hob die Hände die Flächen nach innen als wollte er etwas fragen. Er senkte den Kopf zwei oder drei Zentimeter tief. Mir fällt die Fabel vom Hasen und dem Igel ein. Ich hatte ein langes Gespräch mit C verkündete sie immer noch beiläufig. Dennoch sagte ihm etwas dass das Leben schwieriger wurde.“ Es bedarf gespannter Aufmerksamkeit, um die Sprünge dieser kommalosen Sätze nachzuvollziehen, ohne vorher aufzugeben. Man hat es mit so etwas wie einem Puzzle zu tun, in dem Balestrini und seinesgleichen wenigstens Bruchstücke einer unlesbar gewordenen Welt einfangen wollten. Darum die verdeckten Zitate aus der Banalliteratur (oder aus Robbe-Grillet) und die ein wenig höhnische Ironie: „Die Geschichte scheint sehr kompliziert zu sein aber mit etwas Geduld kann man die Sache entwirren … Die Worte sind leer, haben keine wirkliche Existenz und können deshalb dazu benutzt werden eine Wirklichkeit darzustellen. Es ist nichts mehr zu trinken da.“
In der ersten Hälfte der sechziger Jahre entstand ein anderes Buch: „Felder“ von dem damals völlig unbekannten Jürgen Becker, das auf den ersten Blick nach ähnlichen Methoden konstruiert zu sein schien wie die Balestrinis. „einst war zu erzählen, einst, als ich lebte für mich hin“ beginnt ein Satz, der sich ohne Punkt über anderthalb Buchseiten erstreckt und der von einem Eremiten-Ich handelt, das verschwindet. Oder, im 21. Stück: „als belasteter und nunmehr in die Klärung des Rechts bei solch alltäglich vorfallendem Unfall einbezogener Zeuge: in der spontanen Korrespondenz mit der zuständigen Zentrale über den mündlichen Weg einer Sprechmuschel und eines Drahtes: in der pflichtgemäßen Erwartung der Ankunft des amtlichen Fahrzeugs zum Dienst der allgemeinen Passanten bei Tag und bei Nacht: als den gegebenen Vorgang exakt reproduzierende und dem aufnehmenden Protokoll dienliche Persönlichkeit?“
Auf das lakonisch 23. Stück folgt: „aber lasst sprechen einen jeden und ihr werdet wissen wieder nichts.“ Einmal die artifizielle Komplizierung einer banalen Tatsache (so könnte auch Karl Valentin sich geäußert haben): Er hat nach einem Unfall die Polizei angerufen, und darauf folgt ein Satz in biblischer Pose: Aussagen sind fragwürdig. Zwar ist die Welt fragwürdig geworden und muss mit Worten erst umgarnt werden – aber es gibt sie. Und es gibt das Subjekt, es gibt das Ich, das in einer demütigen Anstrengung aufschreibt, was es sieht, und sei es das Kleinste, und das von sich selbst und seinem alltäglichen Tun Rechenschaft abgibt. „Felder“, bescheiden in der edition suhrkamp als Taschenbuch erschienen, erregte seinerzeit nur mäßiges Aufsehen, genug jedoch, um Jürgen Becker in seiner Idee zu bestärken, er sei ein Schriftsteller. Fünfundvierzig Jahre und um die zwanzig Bücher später (nicht gerechnet die Literaturpreise) besteht an der Annahme kein Zweifel mehr: Becker gehört zu den wichtigen Autoren der deutschen Literatur!
Dabei hat er es seinen Lesern nie leichtgemacht, selbst dann nicht, wenn er Autobiografisches fiktional verschlüsselte, etwa mit der Einführung eines anderen Ich, das ihm erlaubte, in der dritten Person über das zu schreiben, was ihn seither nie losgelassen hat: die Erfahrung von Krieg und Bomben, die er als Bub erlebte (er ist 1932 geboren), die Erfahrung der Grenze, die das Subjekt einschloss. Dabei zogen sich die Texte (und Gedichte) immer rigoroser auf die subjektive Erfahrung, das selbst Erlebte zurück: Es gab einen „Journal-Roman“ („Schnee in den Ardennen“) und „Journalgeschichten“ („Die folgenden Seiten“) neben Hörspielen und dem, was die Gattungsbezeichnung „Roman“ wie einen bequemen, alten Sakko trug. Und nun: „Journalsätze“, die „der Strom der Wahrnehmungen, Erinnerungen und Imaginationen zurücklässt“ (wie es der Klappentext will). So stehen sie hintereinander, diese aus einem Journal, also einem Heft oder einer Art Tagebuch, gefilterten Sätze:
„Der Mann ist nach Berlin geflogen. Gleich nach der Landung ruft er zu Hause an. Die Frau räumt noch den Frühstückstisch leer. / Der Nachteil seines plötzlichen Ruhms sei, dass er nicht mehr in die Stadt gehen könne. Was er denn stattdessen tue. Er gehe trotzdem in die Stadt. / Die Briefträgerin radelt vorbei. /Am Anfang war es ein Risiko, später gewöhnte man sich daran. / Das Orchester bestand aus drei Orchestern, die formiert waren zu einem Karree. Das erste Orchester dirigierte Pierre Boulez.“ (Es handelt sich dabei um Stockhausens „Gruppen“, die gelegentlich aufgeführt werden - etwa in der Ankunftshalle des geschlossenen Flughafens Tempelhof, wenn es denn gleich drei groß besetzte Klangkörper gibt.)
Es sind häufig sehr banale oder nur für den Schreiber wichtige Journalsätze, aus denen das Buch besteht, das den Haupttitel trägt „Im Radio das Meer“. Und doch fühlt man sich geradezu gezwungen, weiterzulesen, Satz für Satz, Aphorismus für Aphorismus – es gibt solche prägnanten, zugespitzten Sätze – aber nicht sehr oft: Man fühlt sich mitgenommen in den Kopf des Autors, sieht Köln (wo er wohnt) und das Bergische Land (östlich von Köln), wo er gewohnt hat, vor sich, die einfachen Tätigkeiten, die das Landleben erfordert, den verdreckten Geländewagen, den er gefahren hat, die Tiere um ihn herum – und die Gedanken in seinem Kopf: Sie sind naheliegend, plausibel.
„Warum sind die Gleisanlagen nicht bombardiert worden?“ „Hat man das Foto gesucht, oder ist es zufällig gefunden worden?“ „Die Tochter des Generals hat einen Gärtner geheiratet.“ „Von draußen kann man sehen, wo drinnen der Schlüssel steckt.“ Auch diese Sätze folgen unmittelbar aufeinander. Oder: „Irgendwo in der Nähe steht ein großer Maschinenraum, in dem rund um die Uhr Maschinen laufen.“ „Der Posten, der uns durchwinkte, hatte ein Kindergesicht.“ „Bratkartoffeln schon zum Frühstück.“ Das steht auch hintereinander. Man wird langsam mit Beckers Welt vertraut und mit dem, wie er auf sie reagiert, und seltsamerweise ergibt sich irgendwann daraus so etwas wie der Begriff: Heimat. Und davon: „Von einer Reise erzählen hören, von Vormittagen im Gebirge, im Schnee, von Nachmittagen am Strand in der Sonne.“ Aber auch: „Einige Flüchtlinge, die geblieben sind, sagen noch lange, dass sie Flüchtlinge sind.“
Manchmal denkt man, dass mit solchen Sätzen eigentlich Geschichten (vielleicht Romane) beginnen könnten. Dann merkt man, dass Becker diese womöglich im Kopf hat – und nicht schreibt. Er ist ein Autor der „Umgebungen“ (so heißt eines seiner frühen Bücher), einer der Introspektion und einer, der uns an die Hand nimmt, indem er die Geschichten hinter den Sätzen verweigert. Er legt es vielleicht darauf an, dass wir diese unerzählten Geschichten weiterspinnen. Oder auch nicht. Denn wir können ja den Sätzen mühelos zustimmen und werden uns selten banal fühlen. Das ist eine große Kunst, denn der Stoff dieser Prosa ist eben das, was uns normalerweise als keiner Rede wert erscheint. Ganz nebenbei ergibt sich auch so etwas wie der Tages- und Jahreslauf des Schriftstellers. Aber der ist weniger wichtig als unsere Aufmerksamkeit auf das, was wir so erleben und sofort abhaken, ohne es aufzuschreiben. Seine Subjektivität ist genau, seine Bescheidenheit herausfordernd und dann findet man den Satz aus den frühen Sechzigern wieder: „schreiben, solange das Nächste unbekannt bleibt“. Dieser Satz steht in den „Feldern“. Er ist ein poetisches Programm, das für viele Jahrzehnte hält.
Literaturangaben:
BALESTRINI, NANNI: Tristano. Aus dem Italienischen übers. von Peter O. Chotjewitz. Mit einem Vorwort von Umberto Eco. edition suhrkamp, Frankfurt am Main 2009. 120 S., 15 €.
Weblink:
BECKER, JÜRGEN: Im Radio das Meer. Journalsätze. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 245 S., 19,80 €.
Weblink: