MÜNCHEN (BLK) – Im August 2008 ist das Sachbuch „McMafia. Die grenzenlose Welt des organisierten Verbrechens“ von Misha Glenny im DVA Sachbuch Verlag erschienen.
Klappentext: Das organisierte Verbrechen ist ein Gewinner der Globalisierung – das ist die bittere Erkenntnis des britischen Journalisten Misha Glenny nach jahrelangen Recherchen in der Unterwelt. In seinem spektakulären, oft erschreckenden und bahnbrechenden Buch enthüllt er die brutalen Profiteure der weltumspannenden Schattenwirtschaft von der kasachischen Kaviarmafia über ukrainische Waffenhändler bis zu kanadischen Drogensyndikaten. Waffenschmuggel, Frauenhandel, Drogengeschäfte, Geldwäsche, Internetbetrügereien, Korruption: Das organisierte Verbrechen hat von den politischen, wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen der Jahre nach dem Mauerfall enorm profitiert und sickert in fast alle Lebensbereiche ein. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 20 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts aus kriminellen Aktivitäten stammen. Bei seinen jahrelangen mutigen Recherchen hat Misha Glenny mit Gangstern, Opfern, Politikern und Polizisten auf der ganzen Welt gesprochen und die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Zusammenhänge der organisierten Kriminalität durchleuchtet. Ob er von der russischen Mafia berichtet, von kolumbianischen Drogenbaronen oder chinesischen Menschenschmugglern – es wird deutlich, aus welchen Quellen sich das hydragleiche Verbrechen speist: aus der Armut der Entwicklungsländer, der unablässigen Gier nach Drogen und Waffen, dem materiellen Überfluss der westlichen Industrienationen. Glenny öffnet uns die Augen für eines der großen Probleme unserer Zeit.
Misha Glenny, geboren 1958, ist Journalist. Seine Spezialgebiete sind Mittel- und Südosteuropa sowie das internationale organisierte Verbrechen. Er arbeitete zunächst für den „Guardian“, später dann als Korrespondent für die BBC. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen und berät regelmäßig europäische Regierungen. (bah/car)
Leseprobe:
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Es war der Abend des 30. April 1994. In Woking, einem Ort in der Grafschaft Surrey, hatte der Frühling Einzug gehalten. Das Barnesbury Estate war nicht ganz ein Mittelschicht-Wohnviertel, aber an Ehrgeiz mangelte es in diesem Teil Südenglands nicht. Als auf dem Willow Way, einer ruhigen Straße mit Reihenhäusern, die Dunkelheit hereinbrach, standen die Autos schon in den Garagen, und die Familien hatten sich zum Abendessen oder zum samstagabendlichen Fernsehvergnügen niedergelassen.
Gegen 21 Uhr stieg vor dem Haus Nummer 31 ein Mann aus einem roten Toyota. Mit einer blau-weißen Schachtel in der Hand schlenderte er zur Haustür und klopfte. Drinnen genoss die 33-jährige Geophysikerin Karen Reed, die ihren Lebensunterhalt mit der Analyse seismischer Daten verdiente, gerade ein Glas Weißwein und eine Unterhaltung mit einer Freundin. Durch das Fenster hörten sie dumpf die Stimme des Mannes: „Haben Sie eine Pizza bestellt?“ Als Karen die Tür öffnete, zog der Pizzabote eine Pistole Kaliber .38 und schoss ihr mit ruhiger Zielsicherheit mehrere Male in den Kopf. Dann lief er zurück zum Auto und fuhr davon.
Karen Reed war an diesem Abend nicht das beabsichtigte Opfer. Aber der Irrtum des Mörders hatte einen Grund. Sein eigentliches Ziel war Karens Schwester Alison Ponting, die als Produzentin für den BBC World Service arbeitete. Sie wohnte zu jener Zeit mit Karen zusammen, war aber an dem fraglichen Abend zufällig nicht zu Hause. Der Auftrag zu dem Mord kam wahrscheinlich von Djokar Dudajew, dem Präsidenten der Republik Tschetschenien.
Alison hatte 1986 den stämmigen armenischen Frauenheld Gacic Ter-Oganessian geheiratet, den sie ein paar Jahre zuvor während ihres Russischstudiums an der Universität kennen gelernt hatte. Die Eheschließung bot den Anlass zu einer ganzen Kette unwahrscheinlicher Ereignisse, und die führten acht Jahre später dazu, dass der Wirbelsturm aus Tod, Imperialismus, Bürgerkrieg, Öl, Kriminalität und nationalistischen Kämpfen, der als Kaukasuskonflikt bekannt ist, über die schläfrige Kleinstadt Woking hereinbrach.
Eineinhalb Jahre vor dem Mord an Karen waren die beiden Brüder Ruslan und Nasarbeg Utsijew nach London gekommen. Sie waren von Präsident Dudajew beauft ragt, für den neuen tschetschenischen Staat den Druck von Pässen und Geldscheinen in die Wege zu leiten. Ruslan war der engste Berater des launischen Dudajew und ein Hardliner in dessen von Flügelkämpfen geplagter Regierung. Sein Bruder galt als Experte für Kampfsport und allgemein als Mietgorilla. Neben ihrem offi ziellen Auft rag, die Papiere für den angestrebten souveränen Staat drucken zu lassen, hatten sie noch mehrere andere Dinge vor: Sie sollten sich bei einem amerikanischen Geschäftsmann einen Kredit von 250 Millionen Dollar für die Modernisierung der riesigen tschetschenischen Ölraffinerien sichern, die Verhandlungen mit dem deutschen Energiekonzern Stinnes AG über den raschen Verkauf tschetschenischen Öls zu Weltmarktpreisen zum Abschluss bringen, und – wie die Ermittler später erfuhren – 2000 Boden-Luft - Raketen des Typs „Stinger“ kaufen. Für derart heikle Verhandlungen brauchten die Vertreter der tschetschenischen Regierung einen geschickten Dolmetscher und Organisator. Ruslan erinnerte sich daran, dass die BBC-Produzentin Alison Ponting ihn früher einmal interviewt hatte, und bat sie um Hilfe. Sie schlug ihren Ehemann Ter-Oganessian vor und hofft e dabei vielleicht, dass er eine einträgliche Stellung fände.
Seit Alisons Mann in London wohnte, hatte er sich zu einem äußerst geschickten Schlawiner entwickelt. Ter-Oganessian war überall und nirgends: Er schmuggelte, gründete Scheinfirmen zur Geldwäsche und war sich auch für einfache Arbeiten nicht zu schade, als seine mutmaßlich kriminellen Geschäfte im Sande verliefen. Anfangs verstanden sich die drei kaukasischen Machos prächtig: Sie feierten wüste Partys, zu denen sie immer neue Callgirls einluden. Wie nicht anders zu erwarten, litt Alison zunehmend unter dem Verhalten ihres Mannes und der beiden Tschetschenen, und kaum anders erging es auch den wohlhabenden Bewohnern des Apartmentblocks „Bickenhall Mansions“, wo die Utsijew-Brüder eine Bleibe gefunden hatten – das Haus lag nur einen Steinwurf entfernt von Sherlock Holmes’ angeblicher Wohnung in der Baker Street 221b.
Irgendwann verschlechterte sich das Verhältnis zwischen dem Armenier und den Tschetschenen. Die englischen Strafverfolgungsbehörden gaben später an, Ter-Oganessian habe herausgefunden, dass die Stinger-Raketen in Aserbaidschan stationiert und im Krieg gegen sein Heimatland Armenien verwendet werden sollten. Es gab aber noch eine andere Theorie: Danach waren die Stinger-Geschosse für Tschetschenien bestimmt, und die Utsijew-Brüder hatten sich mit Ter-Oganessian wegen des Geldes zerstritten. Eines aber ist sicher: Ter-Oganessian machte führende Angehörige des armenischen Geheimdienstes auf die Aktivitäten der Utsijew-Brüder aufmerksam, und aus Los Angeles, dem Zentrum der armenischen Diaspora in den Vereinigten Staaten, wurden mehrere Killer nach London in Marsch gesetzt.
Die Utsijew-Brüder wurden grausam ermordet. (Ruslans Leiche wurde zerlegt, und man entdeckte sie erst, als sie auf dem Weg in die Vorstadt Harrow im Norden Londons aus einer Packkiste fiel.) Ter-Oganessian sitzt wegen der Morde lebenslänglich in Haft , und ein Mitangeklagter, ein Offizier des armenischen Geheimdienstes, erhängte sich kurz vor dem Prozess im Gefängnis von Belmarsh.
Als ich damals die Berichte über den Fall las, war ich entsetzt, nicht zuletzt weil ich herausgefunden hatte, dass David Ponting, der Vater von Alison und Karen, Dozent für Schauspiel an der Universität Bristol war, wo ich die ersten Semester studiert hatte. Seine Einmannshow über Dylan Thomas hatte bei mir während meiner Studienzeit einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ponting hatte mich in die Grundlagen der Radioproduktion eingeführt, und darauf konnte ich später als Mitteleuropakorrespondent der BBC zurückgreifen.
Nach dem Mord an Karen nahm Alison das Angebot an, in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen zu werden. Seiner Kinder beraubt, zog Ponting in die Vereinigten Staaten und arbeitete dort eine Zeitlang als Schauspieler. Später tauchte auch er unter.
Die Pontings waren sanftmütig und bescheiden. Eine Familie, die weniger als sie mit politischen Mafiamördern aus der früheren Sowjetunion zu tun hat, kann man sich kaum vorstellen. Aber ein Beamter, der mit dem Fall der Utsijew-Brüder befasst war, sagte damals: „Wir hatten es plötzlich mit Verbrechen und Politik aus einem Teil der Welt zu tun, von dem, um ehrlich zu sein, keiner von uns bei der Polizei, ob in der Hauptstadt oder in Surrey, jemals etwas gehört hatte. Wir wussten nichts über die Kriege, über die Verbrechen und die Politik – ehrlich gesagt, wir waren völlig ratlos.“ Auf der ganzen Welt bildete sich eine neue Staatsform heraus: der versagende Staat. Und mit den Auswirkungen wurde Großbritannien zum ersten Mal konfrontiert.
In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre löste sich die Nachkriegsordnung auf. Der Zerfall verlief nicht nach einer erkennbaren Gesetzmäßigkeit, sondern in Form einer Reihe scheinbar völlig getrennter Ereignisse: Die japanische Autoindustrie erlebte einen spektakulären Aufschwung; das kommunistische Ungarn wandte sich klammheimlich an den Internationalen Währungsfonds (IWF) und sondierte die Möglichkeit einer Mitgliedschaft ; die indische Wirtschaft stagnierte; Südafrikas Präsident Frederik Willem de Klerk nahm erste diskrete Kontakte mit dem inhaftierten Nelson Mandela auf; in China begann Deng Hsiao-ping mit Reformen; und Margaret Thatcher suchte in Großbritannien die Konfrontation mit den Gewerkschaften.
Für sich betrachtet, wirken diese und andere Ereignisse wie ein Spiegelbild des alltäglichen politischen Auf und Ab oder im besten Fall wie kleine Anpassungen der Weltordnung. In Wirklichkeit jedoch lösten besonders außerhalb der großen Machtzentren in Europa und den Vereinigten Staaten mächtige unterschwellige Strömungen eine Reihe wirtschaftlicher Krisen und Umwälzungen aus, die weit reichende Folgen für die Entstehung jenes Phänomens haben sollten, das heute als Globalisierung bezeichnet wird. Eine Entwicklung jedoch hatte ihre festen Wurzeln in den Vereinigten Staaten und bei ihrem wichtigsten europäischen Verbündeten: Großbritannien. Die Welt unternahm erste Schritte in Richtung Liberalisierung der internationalen Finanz- und Warenmärkte. Amerikanische und europäische Konzerne und Banken, die zuvor ausländische Investitionen und den Devisenumtausch streng unter Kontrolle gehalten hatten, priesen nun die Öffnung der Märkte.
Dann folgte 1989 der Zusammenbruch des Kommunismus, zuerst in einigen Staaten Osteuropas, dann in der mächtigen Sowjetunion selbst. Ohne neue Ideen, knapp bei Kasse und im Rennen um technische Überlegenheit hoffnungslos im Hintertreffen, brach der Kommunismus binnen weniger Tage zusammen. Es war ein gewaltiges Ereignis, und in Verbindung mit den Globalisierungsprozessen löste es ein exponentielles Wachstum der Schattenwirtschaft aus. Diese riesigen wirtschaft lichen und politischen Veränderungen strahlten auf die ganze Welt aus.
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Literaturangaben:
GLENNY, MISHA: McMafia. Die grenzenlose Welt des organisierten Verbrechens. Übersetzt aus dem Englischen von Sebastian Vogel. DVA Sachbuch Verlag, München 2008. 528 S., 24,95 €.
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