BERLIN (BLK) – Im November 2008 ist im Verbrecher Verlag der Erzählband „Vom Tod eines alten Lesers“ von Giwi Margwelaschwili erschienen.
Klappentext: Ein alter Mann wird tot aufgefunden, sein Kopf liegt auf dem Buch, in dem er eben noch ein Gedicht gelesen hatte. Der Geist des alten Mannes jedoch lebt in dem Gedicht weiter, darauf hoffend, die Leserinnen und Leser auf die verborgenen Schönheiten des lyrischen Textes aufmerksam machen zu können. In einer anderen Erzählung sieht sich die Buch- und Versweltverwaltung genötigt, einen alten Diktator, dem es in seinem Geschichtsbucheintrag zu eng geworden ist, mit der Selbstlektüre seiner Werke zu beschäftigen? bis er um Gnade bittet! Kann sie außerdem den Reiter vom Bodensee davor retten, nach der Überwindung der Gefahr doch noch sterben zu müssen? In den sechs Erzählungen Margwelaschwilis wird die Welt der Texte, wie wir sie kennen, auf den Kopf gestellt und kräftig durchgeschüttelt. Und das sehr zur Unterhaltung seiner Leserinnen und Leser!
Giwi Margwelaschwili wurde 1927 als Sohn georgischer Emigranten in Berlin geboren. Seine Mutter starb, als er vier Jahre alt war. Sein Vater lehrte Philosophie und Orientalistik. 1946 wurde er zusammen mit seinem Sohn vom sowjetischen Geheimdienst NKWD entführt. Der Vater wurde ermordet, Giwi Margwelaschwili in Sachsenhausen interniert, anschließend nach Georgien verschleppt. Dort lehrte er Deutsch. Erst 1987 konnte er nach Deutschland ausreisen. Ihn begleitete eine Unzahl von in der Emigration auf Deutsch geschriebenen Romanen und Erzählungen. 1994 erhielt er die deutsche Staatsbürgerschaft und ein Ehrenstipendium des Bundespräsidenten. 1995 erhielt er den „Brandenburgischen Literatur- Ehrenpreis“ für sein Gesamtwerk, 2006 die Goethe-Medaille, 2008 das Bundesverdienstkreuz. Er ist Mitglied des P.E.N und lebt in Berlin. (bah)
Leseprobe:
© Verbrecher Verlag ©
Ein alter Leser hatte sich einmal ganz in ein Gedicht versenkt, war so tief und so freudig in die schöne poetische Landschaft hineingetaucht, wie es normalerweise kein Leser tut. Als er dann wieder umkehren wollte, war der Wald um ihn herum plötzlich sehr dicht, fast undurchdringlich dicht geworden. Von allen Seiten schoben sich immer stärkere und längere Zweige in seinen Weg, bis er keinen Schritt mehr machen konnte und...
„Den Armen hat’s beim Lesen erwischt“, erzählte man sich etwas später bei seiner Beerdigung in der realen Welt. „Stellt euch vor, er wurde tot über einem Gedicht gefunden!“
„Was hat er denn da noch ganz zuletzt gelesen?“ fragte jemand neugierig.
„Ach, irgendetwas altes, was denn sonst?“
Bald entdeckte man in seinem Nachlass eine Notiz, die man uns, der Buch- und Versweltverwaltung, sofort zustellte. Sie lautet: „Wenn ich sterbe, komme ich sicher in den Himmel. Weil ich mir keiner Sünde bewusst bin, sofern ich das sagen darf. Na schön! Aber ich will gar nicht dorthin. Da ist es langweilig. Hat man jemals gehört, dass sich im Himmel etwas tut? Nein, ich mache es anders: Ich gebe meinen Geist irgendwo in der literarischen Buchwelt auf, in einem schönen Gedicht zum Beispiel, in dem es sich, gelesen werdend, ruhig, friedlich und beschaulich lebt und in dem man regelmäßig von einem Leser besucht wird. Den kann man sich von dort aus anschauen, und da auch immer neue Leser kommen, ist das bestimmt mit einiger Abwechslung verbunden. So wird es mir zum Beispiel möglich sein, die Leser in der Gedichtwelt umherzuführen und ihnen besonders schöne Stellen zu zeigen, die sie sonst überlesen hätten, weil sie nicht direkt an den thematischen Gedichtweltwegen liegen, sondern mehr abseits, in den unthematischen Hintergründen der Poesie. Bedenken, dass ich mich den Lesern dort nicht verständlich machen, ihnen meine Bereitschaft, sie noch besser, tiefer, un- und metathematischer in die Gedichtwelt einzuführen, nicht vermitteln könnte, habe ich keine. Denn als posthume Geisterwesen existieren wir alle nur als Bedeutungen, und die ganze literarische Buchwelt ist ja auch nichts anderes. Als reine Geister, also als solche, die ihre irdisch-materiellen und individuellen Eigenschaften abgelegt und verdrängt haben, fügen wir uns – das möchte ich behaupten – in dieser Welt überall tadellos ein, sind wir in ihrer Semantik immer bestens aufgehoben. Und daher müssten wir auch imstande sein, den Lesern dort zu bedeuten, was wir wollen, wenn es nur der Dichtung, in der wir uns befinden, nicht widerspricht. Vielleicht kann der posthume Lesergeist mit dem lebendigen sogar in ein Gespräch kommen, vielleicht kann er ihm auf irgendeine Weise sichtbar werden und mit ihm zusammen die Gedichtweltwege entlang spazieren. Als alter, bald sterbender Leser müsste man es darauf ankommen lassen, beim Lesen zu sterben und zu sehen, wie sich dann die Sache im Gelesenen mit einem weiterentwickelt.“
Wir von der Buch- und Versweltverwaltung haben uns daraufhin das Gedicht vorgenommen, das der alte Leser zuletzt gelesen hat, genau in dem Buch, über dem er gestorben ist. Und wir haben es bibliobiologisch gründlich untersucht. Die Messungen haben ergeben, dass es im Vergleich zu anderen Varianten desselben Gedichts in anderen Anthologien (das Gedicht ist in zahllosen Büchern abgedruckt) innerlich doch tatsächlich lebendiger – wir sagen „lesendiger“ – ist. Also ist der Geist dieses alten Lesers dort wirklich enthalten. Was können wir nun tun? Sind diese Verse, wenn sie praktisch als Grabmal einer Realperson fungieren, ihrem Zweck nicht völlig entfremdet? Andererseits sind sie gar kein Grabmal, wenn die Seele oder der Geist des Verstorbenen in ihnen umgeht.
Man hat diese Zeilen in unserer Verwaltung zunächst ganz erschrocken als ein Seelengefängnis des alten Lesers bezeichnet, doch das Wort kann nicht zutreffen, denn normalerweise geht niemand freiwillig in ein Gefängnis. Außerdem kann eine Seele aus allen stofflichen Begrenzungen, auch aus lesestofflichen, mühelos entweichen, nichts kann sie dort halten, wenn es ihr nicht mehr gefällt.
Sollten wir die Kirche – sie ist ja offiziell das Institut der Seelsorge – benachrichtigen? Das müssten wir eigentlich, aber wir können uns dazu nicht oder noch nicht entschließen. Denn hat der alte Leser den Himmel nicht für langweilig gehalten und ihn als Ort bezeichnet, an den er nach seinem Tod nicht will? Wie steht er dann in den Augen der Kirche da? Sicher nicht so gut.
Wir bewahren das alte Gedicht mit der Seele des alten Lesers unter einer Glashaube auf, so dass man es lesen, aber nicht berühren kann. Ein Messgerät ist angeschlossen, das uns das Plus an innerer Lebendigkeit anzeigt, das wir in oder hinter diesen Zeilen vergegenwärtigen. Das Messgerät indiziert uns den Seelenaufenthalt in diesem poetischen Werk. Nun ist zu sagen, dass die alte Leserseele das Gedicht in der beträchtlichen Zeit, die mittlerweile vergangen ist – es sind rund anderthalb Jahre zwischen dem Tod und dem heutigen Tage verflossen –, nur einmal verlassen hat.
Als wir seinerzeit entdeckten, dass sie nicht mehr da war, wussten wir zuerst nicht, ob wir uns darüber ärgern oder freuen sollten. Ärgerlich war es, weil wir uns solche Mühe mit der alten Leserseele in dem Text gegeben hatten und die Tatsache, dass sie da Station machte, auch zweifellos etwas Sensationelles bedeutete: Waren wir nicht die ersten in der Menschheitsgeschichte, die mit einer textlich fixierten posthumen Menschenseele in Berührung kamen? Versprach das – wenn wir es fertigbrachten, mit der alten Leserseele ein Gespräch anzuknüpfen – nicht etwa ganz neue und umwälzende Erkenntnisse über das individuelle Seelenleben nach dem Tode?
Freude oder, genauer gesagt, Erleichterung empfanden wir aber auch, als uns die Abwesenheit der Seele des alten Lesers in den poetischen Zeilen klar wurde. Denn nun waren wir aller Verantwortung für ein posthumes Seelenleben in der Literatur enthoben, ja, aufgrund der Außerordentlichkeit des ganzen Vorgangs ließ sich sogar vorstellen, es hätte sie tatsächlich überhaupt nicht gegeben, die alte Leserseele in der Dichtung wäre vielleicht nur eine aus unserer Übermüdung entstandene Vision gewesen, nichts weiter. Die Arbeit in der Buch- und Versweltverwaltung ist schließlich sehr anstrengend, und bibliobiologische Syndrome der verschiedensten Art sind bei uns keine Seltenheit. Doch wir hatten die Anwesenheit des Lesergeistes in dem Gedicht ausgemessen und konnten sie uns – Zahlen lügen nicht! – unumstößlich beweisen.
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Literaturangaben:
MARGWELASCHWILI, GIWI: Vom Tod eines alten Lesers. Verbrecher Verlag, Berlin 2008. 149 S., 19,90 €.
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