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Die wuchernde Zeit

„Das Sanatorium zur Sanduhr“ von Bruno Schulz

© Die Berliner Literaturkritik, 04.02.12

MÜNCHEN (BLK) – Im März 2011 ist im Hanser Verlag der Roman „Das Sanatorium zur Sanduhr“ von Bruno Schulz erschienen. Doreen Daume hat ihn aus dem Polnischen übersetzt.

Klappentext: „Das Sanatorium zur Sanduhr“ ist ein Buch über die verrinnende und die stehenbleibende, über die wuchernde, sich verästelnde und die rückwärts ablaufende Zeit. Es ist ein Buch über die Jahreszeiten mit ihrem Licht und ihren Gerüchen, aber auch ein Buch der kindlich-zarten Erotik, und nicht zuletzt ein Buch der grotesken Gestalten, das ein phantastisches Universum eröffnet. Nach der hochgelobten Neuübersetzung von „Zimtläden“ liegt nun auch Schulz’ zweites Buch in einer meisterhaften Neuübersetzung vor, die seine überbordend lebendige Sprache stilsicher ins Deutsche bringt.

Bruno Schulz, geboren 1892 als Sohn eines jüdischen Tuchhändlers im galizischen Drohobycz, studierte Architektur und verdiente seinen Lebensunterhalt als Kunstlehrer. In seiner polnischen Heimatstadt (heute Ukraine), die 1939 von der Roten Armee und 1941 von den Deutschen besetzt wurde, schuf Bruno Schulz phantastische und groteske Traumbilder. Sein von Nöten, Obsessionen und Bedrohung geprägtes Leben endete 1942 tragisch: Bruno Schulz wurde das Opfer eines Ehrenhandels zwischen zwei Gestapo-Offizieren.

Leseprobe:

©Hanser Literaturverlag©

„Sie wollen sich für die erste Klasse anmelden, Herr Rat?“ fragte er. „Das ist sehr löblich und anerkennenswert. Wenn ich recht verstehe, dann wollen Sie Ihre Edukation von Grund auf wieder rekonstruieren. Ich sage immer wieder: Grammatik und Einmaleins, das sind die Fundamente jeder Ausbildung. Natürlich können wir Sie, Herr Rat, nicht genauso behandeln wie einen Schüler, der den schulischen Zwängen unterliegt. Eher schon wie einen Hospitanten, einen Veteranen des Alphabets, der gewissermaßen, nach langem Vagabundieren, noch einmal in der Schulbank gelandet ist. Der sein angeschlagenes Schiff sozusagen in diesen Hafen gelenkt hat. Ja, ja, Herr Rat, es gibt nicht viele, die uns solche Dankbarkeit erweisen, die unsere Verdienste anerkennen und nach lebenslanger Arbeit, nach lebenslangen Mühen zu uns zurückkommen und sich hier für immer niederlassen, als freiwilliger und lebenslanger Repetent. Sie, Herr Rat, werden hier im Zuge einer Ausnahmeregelung sein. Ich habe immer gesagt ...“

„Entschuldigen Sie“, unterbrach ich ihn, „aber ich möchte dazu nur kurz sagen: Was Ausnahmeregelungen betrifft, so werde ich ganz auf diese verzichten ... ich wünsche keine Privilegierung. Ganz im Gegenteil ... ich möchte mich durch nichts unterscheiden, ja mir liegt daran, mich einzufügen, in der grauen Masse der Klassen unterzugehen. Mein ganzes Trachten hätte sein Ziel verfehlt, wenn ich bei irgend etwas im Vergleich zu den an­ deren privilegiert behandelt werden würde. Selbst wenn es um körperliche Züchtigung geht“, hier hob ich den Finger, „erkenne ich zur Gänze ihre erlösende und moralisch erbauende Wirkung an – ich möchte mir ausdrücklich verbitten, daß in dieser Hinsicht für mich irgend­ welche Ausnahmen gemacht werden.“

„Sehr löblich, sehr pädagogisch“, sagte der Herr Direktor anerkennend. „Im übrigen glaube ich“, fügte er hinzu, „daß Ihre Ausbildung, weil sie länger nicht in Gebrauch war, schon beträchtliche Lücken aufweist. In dieser Hinsicht gibt man sich üblicherweise optimistischen Illusionen hin, doch können diese leicht ausgeräumt werden. Erinnern Sie sich zum Beispiel noch daran, wie­ viel fünf mal sieben ist?“

„Fünf mal sieben?“ wiederholte ich verlegen und spürte wie eine warme und süße Welle der Verwirrung zu meinem Herzen strömte und mir die Klarheit des Denkens vernebelte. Fasziniert von der Offenbarung der eigenen Ignoranz begann ich, halb aus Begeisterung darüber, daß ich nun wirklich zur kindlichen Unbewußtheit zurück­ kehrte, zu stammeln und zu wiederholen: „Fünf mal sieben, fünf mal sieben ...“

„Da sehen Sie“, sagte der Direktor, „höchste Zeit, daß Sie sich in der Schule anmelden.“ Dann nahm er mich an der Hand und führte mich in ein Klassenzimmer, in dem Unterricht stattfand.

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Wieder befand ich mich, so wie vor einem halben Jahrhundert, in diesem Lärm, in einem vom wuselnden Gewimmel zappelnder Köpfe dunklen Zimmer. Und mittendrin stand ich, ein Winzling, der sich an den Rockschößen des Herrn Direktors festhielt, während fünfzig junge Augenpaare mich musterten, mit der gleichgültigen, grausamen Sachlichkeit von Tieren, die einen Art­ genossen sehen. Von allen Seiten schnitten sie mir Gesichter, verzogen die Mienen in rascher, verächtlicher, reservierter Feindseligkeit und streckten mir die Zunge heraus. Ich reagierte auf diese Hänseleien nicht, eingedenk der guten Erziehung, die mir nie zuteil geworden war. Beim Anblick dieser flinken Gesichter mit ihren unbeholfenen Grimassen erinnerte ich mich an eine ganz gleiche Situation vor fünfzig Jahren. Damals stand ich neben meiner Mutter, die mit der Lehrerin meine Angelegenheiten regelte. Und genau jetzt, an Stelle meiner Mutter, flüsterte neben mir der Herr Direktor etwas ins Ohr eines Professors, der mit dem Kopf wackelte und mich ernst ansah.

„Es ist ein Waisenkind“, sagte er schließlich zur Klasse, „er hat weder Vater noch Mutter, ihr sollt ihn nicht allzu­ sehr foppen.“

Während er so sprach, standen mir die Tränen in den Augen, es waren echte Tränen der Rührung, und der Herr Direktor, selbst gerührt, schob mich in die erste Bank.

Von da an begann für mich ein neues Leben. Die Schule verschlang mich sofort und zur Gänze. Nie zuvor in meinem früheren Leben war ich derartig von tausend Sachen, Intrigen und Interessen absorbiert gewesen. Mein Leben war eine einzige, riesige Hetzerei. Über meinem Kopf kreuzten sich tausend verschiedenste Interessen. Ich bekam Signale, Telegramme und vielsagende Zeichen, es wurde gezischt und gezwinkert, und auf jede mögliche Art wurde ich in der Zeichensprache an die Pflichten er­ innert, die ich eingegangen war. Ich konnte kaum das Ende der Stunde erwarten, während der ich aus angeborenem Anstand alle Attacken stoisch über mich ergehen ließ, um nur ja kein Wort vom Unterricht des Herrn Professors zu versäumen. Kaum war die Stimme der Glocke zu vernehmen, stürzte sich die brüllende Bande auf mich, überfiel mich mit elementarer Wucht und riß mich fast in Stücke. Sie rannten von hinten durch die Bänke, trampelten mit den Füßen auf die Pulte, sprangen über meinen Kopf hinweg und schlugen dabei Purzelbäume. Jeder brüllte mir seine Forderungen ins Ohr. Ich war zum Zentrum des allgemeinen Interesses geworden, ich mußte bei den ernsthaftesten Transaktionen, bei den verzwicktesten und heikelsten Abenteuern mitmachen. Auf der Straße war ich stets von einer heftig gestikulierenden, randalierenden Bande umringt. Die Hunde kniffen den Schwanz ein und machten einen weiten Bogen um uns, die Katzen sprangen auf die Dächer, wenn wir näher kamen, und die Kleinkinder, die wir unterwegs allein antrafen, zogen in passivem Fatalismus den Kopf zwischen die Schultern, auf das Schlimmste gefaßt.

Der Schulunterricht verlor für mich nie den Reiz des Neuen.

©Hanser Literaturverlag©

Literaturangabe: 

SCHULZ, BRUNO: Das Sanatorium der Sanduhr. Übersetzt aus dem Polnischen von Doreen Daume. Hanser Literaturverlag, München 03.2011. 368 S., 24,90 €.

Weblink: 

Hanser Literaturverlag


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