Von Wilfried Mommert
„Vielleicht kennen ja sogar die Ostdeutschen ihre eigenen Erfolgsgeschichten zu wenig, um stolz auf sie und sich selbst zu sein.“ Dem will die in der DDR aufgewachsene und 1988 in die Bundesrepublik übergesiedelte 68-jährige Schriftstellerin Monika Maron jetzt mit ihrem „Bericht“ untertitelten neuen Buch etwas nachhelfen. Der Titel „Bitterfelder Bogen“ benennt zwar ein neues Bauwerk in der Stadt in Sachsen-Anhalt, Zentrum des einstigen und wegen seiner Umweltverschmutzungen berüchtigten Chemiereviers der DDR, bezieht sich aber vor allem auf die wundersame Wandlung jener Region mit der alten Agfa- und ORWO-Stadt.
Es ist ein Bogen also von Vollbeschäftigung inmitten größter Umweltbelastung über Niedergang und Abbruch nach 1989/1990 bis zur wundersamen industriellen Wiedererweckung durch mutige und tatkräftige Jungunternehmer, die allerdings wie alle anderen auch von den dramatischen Folgen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise nicht verschont geblieben sind.
Das Buch ist auch ein Bericht einer Wiederkehr in jene chemiebelastete Region, über die die damalige DDR-Journalistin Maron einen nüchternen und dafür umso desillusionierenderen Bericht geschrieben hat, der als ihr Debütroman mit dem vielsagenden Titel „Flugasche“ 1981 nur im Westen erscheinen konnte, wo er als Sensation aufgenommen wurde. Er sollte die junge Autorin schlagartig bekannt machen, die in späteren Jahren mit Romanen wie „Stille Zeile sechs“, „Die Überläuferin“, „Animal triste“, „Pawels Briefe“ und „Endmoränen“ hervortreten sollte. Ihr „Bitterfelder Bogen“ ist nun eher eine journalistische Reportage, die nicht ohne Spannung zu lesen ist, weil Maron die Biografien und Schicksale einzelner Protagonisten der Region eindrucksvoll porträtiert.
Da sind sowohl die „Dagebliebenen“, die alle Folgen des totalen Umbruchs der Wiedervereinigung am eigenen Leibe erfahren haben und mit allen ja nur den Ostdeutschen aufgezwungenen Lebensbrüchen überstehen mussten — die Befreiung vom Gift in ihrer Atemluft hätten die Bitterfelder, Wolfener und Thalheimer mit ihren Arbeitsplätzen bezahlt, wie Maron anmerkt. Und da sind auch die „Neueinsteiger“ aus dem Westen, die hier ihr Glück versuchen wollten, wie zum Beispiel die Solartechniker aus Berlin-Kreuzberg, die es von der alternativen „Bastelecke“ zum rasch wachsenden Solarpark mit globalem Marktanspruch in Bitterfeld-Wolfen schafften — und nun wieder zusehen müssen, wie ihre Aktien in den Strudel der ebenso globalen Wirtschafts- und Finanzkrise geraten.
Maron beschreibt dabei auch Fälle von Bitterfeldern, die sich nicht entmutigen ließen und den Sprung in die Selbstständigkeit wagten, auch wenn sie dabei, wie Maron resümiert, nicht immer ebenso tatkräftig aus dem Westen unterstützt wurden wie die „Wessis“, die auch mit der „hohen Chemietoleranz der Bevölkerung“ angelockt wurden. „Viele haben gepackt, was sie packen konnten und von denen war bisher in der Öffentlichkeit viel zu wenig die Rede“, meinte Maron über viele Ostdeutsche bei der ersten Buchvorstellung in Berlin.
Viele „Wessis“ hätten nach der Wiedervereinigung den Ostdeutschen „nichts zugetraut“, obwohl viele durchaus ihr eigenes Schicksal auch in den Betrieben gerne selbst in die Hand genommen hätten. 20 oder 30 Prozent negativer Beispiele seien den Ostdeutschen solange als ihr Spiegelbild vorgehalten worden, „bis sie selbst glauben mussten, sie seien ein Volk von antriebsschwachen, obrigkeitshörigen Sozialfällen“.
Philosophisch wird Maron, wenn sie einige der schließlich Erfolgreichen interviewt und deren leisen Wehmut über den „Zauber des Anfangs“ anklingen lässt, als es noch im menschlich überschaubaren Rahmen im Betrieb zuging im Gegensatz zum schließlich anonymisierten Großbetrieb mit totalem Gewinnanspruch. „Jedes Unternehmen, das an die Börse geht, verliert seine Seele“, sagt eine Gesprächspartnerin der Autorin in dem Buch. „Warum ist unser Leben so eingerichtet, dass eine beglückende Arbeit, gerade weil sie erfolgreich ist, eben das verliert, was uns glücklich gemacht hat?“ fragt Monika Maron sinnierend sich selbst und die Leser in einem bemerkenswerten Buch zum 20. Jahrestag des Mauerfalls.
Literaturangabe: MARON, MONIKA: Bitterfelder Bogen. Ein Bericht. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 174 S., 18,95 €.
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