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„Die Zeit fährt Auto ...“

Die Gedichte Erich Kästners

© Die Berliner Literaturkritik, 01.09.10

Von Klaus Hammer

1928 erschien Kästners erstes Buch, „Herz auf Taille“, das eine Sammlung von Gedichten seit 1920 enthielt. Es begründete seinen Ruf als Dichter der Neuen Sachlichkeit. Ein Jahr später veröffentlichte er seinen nächsten Gedichtband, „Lärm im Spiegel“. 1930 folgte „Ein Mann gibt Auskunft“ und 1932 der letzte Band dieser Reihe: „Gesang zwischen den Stühlen“. Der Themenzyklus dieser vier Bücher war so umfassend, dass Kästner in späteren Jahren oftmals auf diese Gedichte zurückgreifen sollte. 1936 hat er für einen Schweizer Verlag eine Auswahl seiner Gedichte aus den Jahren 1928 bis 1936 unter dem Titel „Doktor Erich Kästners lyrische Hausapotheke“ veranstaltet. 1946 bis 1952 entstanden kabarettistische Chansons, Gedichte und Epigramme und 1955 erschien der Zyklus „Die dreizehn Monate“, der als letzte Phase in Kästners lyrischem Schaffen betrachtet werden kann.

Nahezu alle Gedichte, vom ersten Band „Herz auf Taille“ bis zum letzten „Die dreizehn Monate“ – mit Ausnahme der kabarettistischen Chansons nach 1945 (warum nur?) – , fasst nun eine wohlfeile, bequem handhabbare Taschenbuchausgabe des Haffmans Verlages bei Zweitausendeins zusammen, gleichermaßen geeignet für den Spezialisten wie für den Kästner-Freund, spannende, verständnisvolle wie nachdenkliche Lektüre zu Hause wie unterwegs versprechend.

Denn damals wie heute noch spricht Kästner vielen im Sinne elementarer, vernunftgegründeter Übereinstimmung „aus dem Herzen“. Seine Skala reicht vom Privaten bis zum Öffentlichen. Die „privaten“ Gedichte thematisieren die Bewältigung eines unbefriedigenden Alltags, der bestenfalls kleine Freuden bereithält, die Einsamkeit des Einzelnen und die - noch schrecklichere – Einsamkeit zu zweit. Das Versanden der Liebe in Alltäglichkeit, die Wortlosigkeit, die keinen Ausweg findet, ja noch nicht einmal einen sucht, der Abschied für immer, in welchem Hoffnungslosigkeit nicht als Verlust, sondern als Zustand von allem Anfang erscheint, sind bevorzugte Themen Kästners. Kurze Augenblicke des Naturgenusses, schönes Wetter und angenehme Jahreszeiten müssen für eine monotone Existenz entschädigen, die angefüllt ist mit Versatzstücken aus Reklame, Presse, Schlager und Politik, leeren Gesten und abgelegten Gegenständen des persönlichen Gebrauchs wie Hüten, Schirmen und Spazierstöcken.

„Sachliche Romanze“ (1928) konstatiert die Leere einer Beziehung, die man für einen sicheren Besitz hält: „Als sie einander acht Jahre kannten / (und man darf sagen: sie kannten sich gut), / kam ihre Liebe plötzlich abhanden. / Wie andern Leuten ein Stock oder Hut. // Sie waren traurig, betrugen sich heiter, / versuchten Küsse, als ob nichts sei, / und sahen sich an und wussten nicht weiter. / Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei. // Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken. / Er sagte, es wäre schon Viertel nach vier / und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken. / Nebenan übte ein Mensch Klavier. // Sie gingen ins kleine Café am Ort / und rührten in ihren Tassen. / Am Abend saßen sie immer noch dort. / Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort / und konnten es einfach nicht fassen.“ Unbarmherzig schiebt sich die Dingwelt in den Vordergrund, während der Umgang miteinander zu Gesten gerinnt. Die vorbeifahrenden Schiffe, das malträtierte Klavier und die Kaffeetassen erlangen eine bedrückende Gegenwart. Das Paar sitzt sprach- und hilflos da, bewegungsunfähig, zu Gegenständen erstarrt, sich selbst fremd wie auch der Umwelt.

Die „öffentlichen“ Gedichte nehmen die Nachkriegszeit, die Zwanzigerjahre, aufs Korn, die sich, da schon wieder neue Kriege ausgebrütet werden, jäh als Vorkriegszeit entpuppt. „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühen“ – Kästner fragt: „Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!“ – gehört wohl zu den besten Gedichten, die von ihm über dieses Thema geschrieben wurden. Insbesondere werden dilemmatische, innenpolitische Situationen angegriffen, an denen gerade die letzten Jahre der Weimarer Republik reich waren. Das erscheint häufig als verzweifeltes Sich-Aufbäumen gegen einen unentrinnbaren Sog: „Die Zeit fährt Auto. Doch kein Mensch kann lenken. / Das Leben fliegt wie ein Gehöft vorbei. / Minister sprechen oft vom Steuersenken. / Wer weiß, ob sie im Ernste daran denken? / Der Globus dreht sich und geht nicht entzwei. // Die Käufer kaufen. Und die Händler werben. / Das Geld kursiert, als sei das seine Pflicht. / Fabriken wachsen. Und Fabriken sterben. / Was gestern war, geht heute schon in Scherben. / Der Globus dreht sich. Doch man sieht es nicht.“ Ausgerechnet dieses Gedicht soll in den Zwanzigerjahren geschrieben worden sein? Es erfasst höchst exakt das Zeitgefühl von heute.

Bei Kästner ist mit der unausrottbaren Neigung zum Verbessern der Welt eine tief wurzelnde Skepsis, ja Verzweiflung verknüpft. In vielen seiner Pointen ist der böse Ton unüberhörbar. Kästner fehlte die „Freundlichkeit“ Brechts, nicht, wie man gemeint hat, weil er politisch standpunktlos gewesen wäre, sondern weil er sich weit mehr als Diagnostiker denn als Therapeut verstand. Das wurde von Band zu Band, also von Jahr zu Jahr, ersichtlicher. Eine gewisse Behaglichkeit, die Kästner zunächst als erfolgreicher Besitzer „einer kleinen Versfabrik“ entwickelte, machte einem Gefühl unkontrollierter Angst Platz. Das wird im Titelgedicht des Bandes von 1930 am Beispiel einer gescheiterten Liebesaffäre formuliert: „Das Jahr war schön und wird nie wiederkehren. / Und wer kommt nun? Leb wohl! Ich habe Angst!“ Das ist seismographisch exaktes Erspüren einer kommenden allgemeinen Katastrophe.

Im Vorwort zu „Doktor Erich Kästners lyrische Hausapotheke“ bekannte der Autor: „Es war seit jeher mein Bestreben, seelisch verwendbare Strophen zu schreiben.“ Kästner wollte, in Analogie zu bewährten Hausmitteln für die kleineren, aber eben deshalb umso lästigeren Krankheiten, der „Therapie des Privatlebens“ dienen. Das „Man nehme“ der ärztlichen Anweisung wurde bei Kästner in einem alphabetischen Register zum „Man lese“: Der Gebrauchslyriker lieferte die Gebrauchsanweisung gleich mit. Dieses Verfahren war erstmals 1926 von Brecht in der „Taschenpostille“, die 1927 in „Hauspostille“ umgetitelt wurde, geübt worden. „Diese Hauspostille“, erklärte Brecht lapidar, „ist für den Gebrauch der Leser bestimmt. Sie soll nicht sinnlos hineingefressen werden.“ Das war eine eindeutige Absage an den kulinarischen Charakter von Dichtung, eine Absage, die Brecht später regelrecht zum Programm ausbaute.

Diese Hinwendung zur Gebrauchslyrik entsprach vollkommen Kästners wiederholter Forderung nach Klarheit im Denken und Ausdruck, und nichts war ihm mehr zuwider als das, was er mit „unechter Tiefe“ bezeichnete. Dort, wo sich Gefühle verselbstständigten, wo sie aus der Kontrolle gerieten, wählte er den Ton des ironischen Kommentars, und oft liegt der Effekt der Gedichte in ihrer scheinbaren Unlogik oder Ungereimtheit, und zwar nur „scheinbar“, weil Kästner hier auch den formalen Aufbau zum Ausdrucksträger der Ungereimtheiten werden lässt. Im „Hymnus an die Zeit“, der mit der Anweisung „Mit einer Kindertrompete zu singen“ versehen ist, heißt es: „Wem Gott ein Amt gibt, raubt er den Verstand. / Im Geist ist kein Geschäft. Macht Ausverkauf! / Nehmt euren Kopf und haut ihn an die Wand! / Wenn dort kein Platz ist, setzt ihn wieder auf. // … Macht einen Buckel. Denn die Welt ist rund. / Wir wollen leise miteinander sprechen: / Das Beste ist totaler Knochenschwund. Das Rückgrat gilt moralisch als Verbrechen. // Nehmt dreimal täglich eine Frau zum Weib. / Pro Jahr ein Kind. Und Urlaub. Sonst die Pflicht. / Das Leben ist ein sanfter Zeitvertreib. / Spuckt euch vorm Spiegel manchmal ins Gesicht.“ Die Ironie schlägt jeweils im letzten Vers abrupt in höhnische Kritik um.

In seinen kabarettistischen Songs wird die Form dann immer straffer, die Konzentration auf ein Thema stärker. Die Welt ist ein Rummelplatz und der Moritatensänger lädt das „geschätzte Publikum“ ein: „Na, wer hat noch nicht? Na, wer will noch mal? / Hier dreht sich der Blödsinn im Kreise! / Hier sehen Sie beispielsweise / den Türkisch sprechenden Riesenwal / und die Leiche im schwarzen Reichswehrkanal! / Und das alles für halbe Preise! //… Bild Nummer Eins – geschätztes Publikum – / zeigt uns den Massenmörder Manfred Melber. / Der brachte neunundneunzig fremde Menschen um! / Und als den hundertsten sich selber. / Der Arme …“  Nicht nur dieses Gedicht folgt in seinem Aufbau der Logik des Irrsinns einer kranken Zeit.

Oft hat Kästner das Thema der Frau als Mutter (die konstante Wiederkehr des Mutter-Sohn-Themas hat autobiographische Züge), Ehefrau, Geliebte, Geldverdienerin, Prostituierte behandelt. Diese Gedichte wie die, welche die Unfähigkeit der beiden Partner beschreiben, eine Gemeinsamkeit zu schaffen, haben einen direkten Bezug zur Zeit, in ihnen übt Kästner Kritik an der Gesellschaft, aber sie sind auch Ausdruck der eigenen Einsamkeit oder Isoliertheit – und eng verwandt mit dem Wunsch zu resignieren. Wenn es um die Einsamkeit des Individuums geht, dann schlägt die tragische Ironie in Hohn und Zynismus um, so wenn der Dichter zur Abhilfe dieses Zustandes den Selbstmord empfiehlt (im Unterschied zu den sozialkritischen Gedichten, in denen der Selbstmord die letzte erschütternde Konsequenz eines unlebbaren und ungelebten Lebens bedeutet).

In dem Gedicht „Die Welt ist rund“ kann man lesen: „… Ja, wenn die Welt vielleicht quadratisch wär! / Und alle Dummen fielen ins Klosett! / Dann gäb es keine Menschen mehr. / Dann wär das Leben nett. // Wie dann die Amseln und die Veilchen lachten! / Die Welt bleibt rund, und du bleibst ein Idiot. Es lohnt sich nicht, die Menschen zu verachten. / Nimm einen Strick. Und schieß dich damit tot.“ Seltsam, diese Mischung aus Menschenverachtung (die ganze Welt ist nur von Dummen bevölkert) und gleichzeitigem Verantwortungsgefühl für diese Menschen (er bleibt ein Idiot, da er immer noch glaubt, sie bessern zu können). So kommt es zu dem satirischen Schluss, sich mit einem Strick totzuschießen.

Es ist erstaunlich, wie genau Kästners zeitsatirische Lyrik sowohl das Bild des typischen Bürgers zeichnet, der weder selbstständig denken noch handeln will, sondern glücklich jeden Befehl ausführt (so im „Lied vom kleinen Mann“), als auch das Bild eines Staates entwirft, der sich mit Hilfe seiner Bürger zur alles unterdrückenden, absoluten Diktatur hin entwickelt (so in „Ganz rechts zu singen“: „Wir brauchen eine Diktatur / viel eher als einen Staat. / Die deutschen Männer kapieren nur, / wenn überhaupt, nach Diktat“). Das Übel aber nur in der Dummheit der Menschen, dem Hang zur Selbstzerstörung zu sehen, reicht wohl als Erklärung der gesellschaftlichen Prozesse nicht aus.

Nach 1945 musste ein Neuanfang gefunden werden. An die Stelle des angreifenden Satirikers trat jetzt der Berichterstatter und Kommentator seiner Zeit, an die Stelle des verurteilenden Hohns und Spotts wollte Kästner nun seinen Mitbürgern Hilfe und Verständnis zukommen lassen. Er wandte sich fast ausschließlich an jene, die wie er während der Hitler-Diktatur und des Krieges gelitten hatten, und wollte an deren Verantwortungsbewusstsein, den unbedingten Willen zum Weiterleben und Wiederbeginn appellieren. Unverständlich, warum diese Chansons, die Kästner fast alle für das Kabarett „Die Schaubude“ geschrieben hat, also „Ein alter Herr geht vorüber“, „Lied einer alten Frau am Briefkasten“, „Das Lied vom Warten“, „Le dernier cri“, „Marschlied 1945“ und andere, in dem Band nicht enthalten sind.

Vergeblich wartet die „alte Frau am Briefkasten“ noch immer auf ein Lebenszeichen ihres Sohnes und schreibt ihm deshalb immer wieder Briefe, während in der Dame mit dem zweifelhaften Gewerbe, die das „Lied ohne Zeitverlust“ singt, die käufliche Gesinnungslosigkeit satirisch aufgespießt wird: „Ob er nun Staatsmann ist, ob Börsenheld, ob Krieger, / ich liebe den Sieger!“ Im erschütternden „Kleinen Solo“, auch 1947 für „Die Schaubude“ verfasst, hätte man lesen können, wie Kästner das Fazit zieht über seine vergeblichen Bemühungen, die Probleme der unterbrochenen Kommunikation in den Griff zu bekommen: „Schenkst dich hin. Mit Haut und Haaren. / Magst nicht bleiben, wer du bist. / Liebe treibt die Welt zu Paaren. / Wirst getrieben. Musst erfahren, / dass es nicht die Liebe ist … / Bist sogar im Kuss alleine. / Aus der Wanduhr tropft die Zeit. / Gehst ans Fenster. Starrst auf Steine. / Brauchtest Liebe. Findest keine. / Träumst von Glück. Und lebst im Leid. / Einsam bist du sehr alleine – / und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.“

Mit der Gründung des Kabaretts „Die kleine Freiheit“ setzte Kästner dann jene Art von Gebrauchslyrik fort, die er in der Nachkriegszeit für den „Sofortbedarf“ verfasst hatte. Die Zeit des Kalten Krieges forderte seine Stellungnahme heraus, mit bitterem Sarkasmus lässt er den allerorten regierenden Prinz Karneval – auch dieses Gedicht, „Der Prinz auf Zeit“, fehlt in unserer Ausgabe – den Menschen zurufen: „… Vergeßt! Denn ihr wollt ja vergessen, / was ist, und das, was ihr seid … / Blickt nicht auf die Opfer der Schinder! / Hört nicht auf das Weinen der Kinder / in Korea und anderswo! / Laßt die Toten die Toten verscharren! Singt meine Lieder! / Morgen kommen die wirklichen Narren – / und regieren euch wieder!“

Angesichts der Ergebnislosigkeit seines Bemühens, mit politischen Chansons in die politischen Prozesse einzugreifen, wandte er sich in seinem letzten Gedichtzyklus „Die dreizehn Monate“ wieder der liebevoll beobachteten Natur, deren Werden und Vergehen in der Zeit zu. „Man müsste wieder spüren“, so liest man im Vorwort: „Die Zeit vergeht und sie dauert, und beides geschieht im gleichen Atemzug. Der Flieder verwelkt, um zu blühen. Und er blüht, weil er welken wird. Der Sinn der Jahreszeiten übertrifft den Sinn der Jahrhunderte.“ Wem zwölf Monate genügen, „dem ist nicht zu helfen“. Und so ersteht ein Wunschbild: „Wir träumten, und die Erde wär der Traum. / Dreizehnter Monat, laß uns an dich glauben! / Die Zeit hat Raum!“

Das ist Kästner - Zeitkritiker, satirischer Moralist und Psychotherapeutiker, Autor von Zeitgedichten mit privatem wie öffentlichem Gebrauchswert. Mögen auch nicht „alle Gedichte“, wie das Titelblatt ankündigt, hier enthalten sein, so könnte dieser Band doch für viele zu einem nützlichen Weg- und Zeitbegleiter werden.

Literaturangabe:

KÄSTNER, ERICH: Die Gedichte. Alle Gedichte vom ersten Band „Herz auf Taille“ bis zum letzten „Die dreizehn Monate“. Haffmans Verlag bei Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2010. 432 S., 14,80 €. 

Weblink:

Haffmans Verlag


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