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„Dieses Mal“

Unangenehme Wahrheiten in Magdalena Tullis neuem Roman

© Die Berliner Literaturkritik, 31.05.10

FRANKFURT/MAIN (BLK) – Im Februar 2010 ist im Verlag Schöffling & Co. Magdalena Tullis Roman „Dieses Mal“ erschienen.

Klappentext: Aus maßgeschneiderten Anzügen, Kleidern und Kostümen schlüpfen mit spielerischer Leichtigkeit die Figuren in Magdalena Tullis neuem Roman, der zugleich eine Parabel auf den schöpferischen Akt des Schreibens ist. Dieses Mal lässt ein Reichsstädtchen kurz vor dem kommunistischen Umsturz entstehen. Bevölkert wird es von dem Schneider, dem Notar nebst Gattin und Kindern, dem Polizisten, dem Dienstmädchen und seinen Liebhabern, umfahren von einer Ringstraßenbahn, umgeben von abgründigen Hinterzimmern, die sich manchmal als Rückräume eines Theaters erweisen. Auch die Erzählerfigur wechselt die Rollen und probiert mit den Kleidern verschiedene Haltungen aus. In diese bunte, böse Miniaturwelt dringen Störenfriede, die ständig alles sabotieren, zum Einsturz bringen und nach Kräften schiefgehen lassen. Börsenkrach, Studentenunruhen, Attentate und Flüchtlingselend geben dem Roman eine dramatische Wendung und einen hoch aktuellen Bezug.

Magdalena Tulli, geboren 1955, lebt als freie Autorin und Übersetzerin aus dem Italienischen in Warschau. Sie gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern der polnischen Gegenwartsliteratur. (jos)

Leseprobe:

©Schöffling & Co.©

Es ist kein Zufall, dass hier niemandem das Recht zusteht, eine Waffe zu tragen, nicht einmal dem Polizisten. Ich habe keine einzige Waffe bestellt, keine taucht in den Rechnungen oder Inventarlisten auf. Dennoch sind Revolver im Umlauf – in der Regel gut gereinigt, geladen und schussbereit. In dunklen Schubladen verborgen liegen sie aufbewahrt. Woher kommen sie? Bekanntlich werden sie ja weder in Schneider- noch in Tischlerwerkstätten hergestellt. Da sie vorhanden sind, müssen sie auf irgendeine Weise herbeigeschafft worden sein. Vielleicht kreisen sie seit jeher zwischen den Geschichten, von Hand zu Hand, Schmuggelware, heimlich in verbotenen Zonen gekauft, an den Grenzgebieten verschiedener Geschichten, dort, wo sie, vom eigenen Fieber benebelt, ineinander übergehen. Der Preis für die verdächtigen Profite, denen die in Overalls gekleideten Ausführenden der Arbeiten hinterherjagen, sind die Verzweiflung und Wut zweitrangiger Personen. Doch aus mancherlei Gründen wird das alles so lange wie möglich in die Vergessenheit verdrängt, man besteht nicht auf Bestrafung.

Vieles veranlasst mich dazu, mich vor Arroganz und beispiellosen Betrügereien zu beugen, mich zu unterwerfen, zu erniedrigen. Ein für alle Mal auf sämtliche Nachforschungen zu verzichten, mich stillschweigend bereit zu erklären, gefälschte Rechnungen gegen echtes Geld anzunehmen, für fiktive Tätigkeiten zu entlöhnen und für absichtlich misslungene Unternehmungen, angelegt als Alibi für jene anderen, die heimlich ausgeführt werden und im Verborgenen gelingen. Großtuerische Hartnäckigkeit beim Vergleich der Rechnungen mit dem wirklichen Stand der Dinge hat gar keinen Zweck, auch bringen weder die Sehnsucht nach der Eindeutigkeit der Arithmetik noch die unwiderstehliche Neigung des Verstands zur Buchhalterei irgendwelchen Nutzen. In der Rechnung erscheinen zum Beispiel ganze Tonnen Silbernägel, deren Preis die Annahme aufdrängt, dass ihre Bezeichnung wörtlich zu verstehen ist, doch ihre Anwendung erscheint schon auf den ersten Blick besinnungslos verschwenderisch, als könnten nicht einmal die Gerüste aus ungehobelten Brettern ohne sie auskommen. Schon das bloße Zählen von Paletten, Kartons und Stückzahlen stört die Ruhe der Magazine. Es fordert das Verschwinden und Auftauchen von Dingen heraus, als wollten diese den vorgenommenen Kontrollprozeduren trotzen. Deshalb gibt es keine Möglichkeit, zweifelsfrei festzustellen, ob etwas tatsächlich existiert hat oder nur in Kostenaufstellungen aufgeführt worden ist wie der Schnee vom letzten Jahr, die ersten Strahlen der Frühlingssonne, wie Sommergewitter mit Blitzen, wie Herbstnebel.

Wem gehört das alles, wessen Hab und Gut wird gestohlen? Auf die einfache Frage, die sich von selbst aufdrängt – Wer hat hier wiederholt „ich“ gesagt? –, gibt es keine ehrliche Antwort. Es ist anstrengend, sich versteckt zu halten, auf die Dauer geradezu unmöglich. Doch das Wörtchen „ich“ erklärt hier gar nichts. Es bedeutet an sich schon zu wenig. Weniger als die Unterschrift auf einem Wechsel, vielleicht so viel wie die schiefen Initialen, die jemand auf eine zerkratzte Wand geschmiert hat. Diese drei Buchstaben haben so wenig Inhalt, dass sie jedermanns und niemandes Besitz sind. Eine ungewisse Geste der Hand in der Luft, die die Aufmerksamkeit der Zeugen auf den obersten Knopf am Hals lenkt, trägt in ihrer Hilflosigkeit auch wenig bei, doch verständlicher kann man sie nicht machen. Selbst das aus Schnitt und Beschaffenheit der Oberbekleidung abgeleitete Bild einer in Bewegung befindlichen Silhouette wäre nur ein Anhaltspunkt für flüchtige und oberflächliche Assoziationen. Wozu brauche ich das alles, könnte man misstrauisch fragen, wozu Ereignisse, wozu das Leiden der in sie verwickelten Personen? Und im Angesicht dieser Fragen gibt es keinen anderen Ausweg, als sich zu ducken wie vor einem Stein aus komprimierter Kohle. Wenn er die Schläfe trifft, kann er auf der Stelle töten. Doch er trifft meistens nicht, pfeift nur am Ohr vorbei.

©Schöffling & Co.©

Literaturangabe:

TULLI, MAGDALENA: Dieses Mal. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2010. 208 S., 19,90 €.

Weblink:

Schöffling & Co.


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