In Chewsurien soll man, so formulierte es Essad Bey, „für immer vor allen Gefahren geborgen [sein]“. Das ist eine traumhafte, eine verlockende Vorstellung. Doch das Tal der Chewsuren liegt im Kaukasus, jenem zentralasiatischen Flaschenhals, der Asien von Europa trennen oder verbinden kann. Dort gibt es neben einer beachtlichen Anzahl unterschiedlicher Sprachen und Kulturen immense Bodenschätze, die das Gebiet seit jeher zu einem Spielball der jeweiligen Großmächte machen. Es sieht ganz danach aus, als sei die Bergregion mitnichten so friedlich, wie es von Bey dargestellt wurde.
Eine Begründung für dieses Paradox bietet der amerikanische Journalist Tom Reiss, der dem enigmatischen Schriftsteller eine umfassende Biographie, mit dem beziehungsreichen Titel „Der Orientalist“, gewidmet hat. Das Buch ist einem Zufall geschuldet: Als Reiss am Kaspischen Meer an einer anderen Sache arbeitete und die dortige Kultur näher kennenlernen wollte, stieß er in Baku auf widersprüchliche Angaben über die Identität eines als aserbaidschanischer Nationaldichter geltenden Mannes.
Er begann zu recherchieren und förderte die abenteuerliche Geschichte eines Autors zutage, der in Berlin als Essad Bey zu den bewunderten Stars der „Literarischen Welt“ gehörte, einer der produktivsten und erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren der Weimarer Republik war und viel beachtete Biographien und Geschichtswerke über Russland, den Orient, Mohammed, Resa Schah, Zar Nikolaus II und Stalin schrieb, bevor er unter dem Pseudonym Kurban Said den Roman „Ali und Nino“, das bis heute bewunderte Nationalepos Aserbaidschans veröffentlichte. Trotzkij hatte sicher nicht nur Beys schriftstellerische Fähigkeiten, sondern auch die Scharaden um seine Person im Sinn, als er fragte: „Wer ist dieser Essad Bey?“
Essad Bey wird in den Revolutionswirren des Jahres 1905 als russischer Jude in Aserbaidschan mit dem Namen Lev Nussimbaum geboren. Sein Vater, Abraham, macht im kosmopolitischen Baku, dem östlichen Eldorado für Glücksritter und Spekulanten, mit Ölquellen ein Vermögen, während seine Mutter, bis zu ihrem frühen Selbstmord – der Junge ist gerade erst sechs oder sieben Jahre alt – als kommunistische Revolutionärin in Erscheinung tritt. Später verrät Lev, dass Joseph Djugaschwili Stalin zeitweilig im Haus der Nussimbaums gelebt hat. Solch enge Verbindungen mit den historischen Umbrüchen der Zeit sollen auch künftig immer wieder das Leben des jungen Mannes bestimmen.
Das Revolutionsjahr 1917 zwingt Abraham und Lev Nussimbaum zu einer abenteuerlichen Flucht, die von Piraten- und Wüstenräuber-Überfällen, der Bedrohung durch tödliche Krankheiten und die Willkür einheimischer Potentaten geprägt ist. Sie flüchten nach Osten, über das Kaspische Meer bis ins pittoreske Buchara und von dort aus mit einer Karawane Richtung Persien, das den jungen Aserbaidschaner mit seiner reichen Kultur beeindruckt. Schon bald, nachdem sich die Lage etwas entspannt hat, kehren Vater und Sohn für kurze Zeit in das mittlerweile türkisch besetzte Baku zurück.
Aber die Bolschewiki drängen mit Macht und ohne Skrupel ein weiteres Mal in die Hafenstadt – und diesmal ist die Flucht der Nussimbaums ein Abschied für immer. Die Reise führt nach Westen über Konstantinopel und Rom bis nach Paris, wo Abraham mit „toten Seelen“, den Besitzrechten seiner Ölquellen, handelt. Von dort geht es weiter ins Zentrum der russischen Emigration, nach Berlin. Die Bildung des gerade einmal 16 Jahre alten Gymnasiasten soll in Deutschland fortgeführt werden. Hier erfindet sich Lev zum ersten Mal neu.
Er immatrikuliert sich ohne Abitur und beginnt Türkisch und Arabisch zu studieren, besucht das russische Gymnasium nur noch mit mäßigem Erfolg, konvertiert zum Islam und nennt sich fortan Mohammed Essad Bey.
Als persischer Prinz, der er nun ist, bereichert er das künstlerische Umfeld in Berlin und debütiert als Orient-Experte in Willy Haas’ „Literarischer Welt“. Der Erfolg als Schriftsteller und Journalist, Vortragsreisen in Europa, ein Aufenthalt in Amerika sowie eine kurze, unglückliche Ehe lassen die Weltwirtschaftskrise und die fragmentierten politischen Verhältnisse der Zeit in den Hintergrund treten. Er kultiviert seinen ausgeprägten Individualismus und gibt sich als universaler Geist. Seinem Nonkonformismus ist jedoch eine verhängnisvolle Distanz zu den sich verändernden Realitäten zu eigen und Bey zeigt, ungeachtet seiner jüdischen Herkunft, Interesse am Nationalsozialismus und später auch am italienischen Faschismus – für die Nazis aber ist und bleibt er mit aller Konsequenz, ein Jude.
Der Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer ist gleichbedeutend mit einem Berufsverbot. Essad Bey zieht sich zunächst nach Wien, später nach Positano zurück. Doch als Kurban Said, offiziell das Pseudonym der Baronin Elfriede von Ehrenfels, schreibt er weiter, bis er in Italien, 36-jährig, nicht durch Faschisten, sondern an einer seltenen Blutkrankheit stirbt.
Tom Reiss handelt nicht einfach einen Werdegang ab, sondern erzählt mit vielen Geschichten ein Leben. Er schildert die Ereignisse lebhaft, informativ und mit einem guten Gefühl für Spannung. Viele seiner Informationen stammen aus autobiographischen Texten, deren Wahrheitsgehalt nicht immer eindeutig ist, so dass Reiss einen Weg finden musste, um Fakten von Fiktionen zu trennen. Auf der Suche nach immer selteneren Zeitzeugen hat er, um das historische Panorama wieder auferstehen zu lassen, die halbe Welt bereist. Indem er auch von diesen Reisen berichtet, stellt er seine spannende Recherche gleichrangig neben das Objekt seines Interesses.
Einmal schildert Reiss seine Unterhaltung mit Ertugul Osman, dem legitimen Erben des Osmanischen Reichs, ein andermal seinen Besuch bei der exzentrischen Baronin von Ehrenfels, deren Vorgängerin Essad Bey sein Pseudonym verdankt. So entfaltet der Biograph langsam die Vita des geheimnisvollen Autors und enthüllt die erstaunlichsten Verbindungen zwischen den Lebenslinien zahlreicher Persönlichkeiten. In seiner Form gleicht das Buch Illija Trojanows „Nomade auf vier Kontinenten“, in dem Trojanow Sir Richard Francis Burton auf ähnliche Weise begleitet.
„Der Orientalist“ ist mehr als eine exzellent geschriebene Biographie oder spannende Spurensuche. Sie ist ein detailreiches Diorama lebendiger Geschichte, in dessen Zentrum ein Mensch zu finden ist, der, wie Tom Reiss sehr klug bemerkt, seine eigene, gebrochene Persönlichkeit als Spiegelbild eines historischen Kollapses empfinden musste. Chewsurien erscheint als Zufluchtsort eines entwurzelten Menschen und literarischen Geschichtsschreibers, der wusste, dass „die Wahrheit […] nicht gleichbedeutend mit den reinen Tatsachen [ist].“ Erinnertes wird immer zu einer neuen Form der Realität.
Von Jürgen Wicht
Literaturangaben:
REISS, TOM: Der Orientalist. Auf den Spuren von Essad Bey. Biographie. Aus dem Amerikanischen von Jutta Bretthauer. Osburg Verlag, Berlin 2008. 470 S., 25,90 €.
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