Von Katrin Börner
Den Ersten Weltkrieg hat es nie gegeben. Und deshalb führen „Alfred und Emily“, die Eltern von Doris Lessing, in der neuen Novelle der Schriftstellerin ein Leben, das nicht verdunkelt ist von Verlusten und einem Kriegstrauma. In der Wirklichkeit blieb die Tochter von der Düsternis nicht verschont, die der Krieg dem Elternpaar brachte. „Die Schützengräben waren mir genauso präsent wie all das, was mich tatsächlich umgab“, schreibt Lessing. Nun hat sie nicht nur im Stillen versucht, sich davon zu befreien, sondern laut und öffentlich.
Der „Krieg, der alle Kriege beenden sollte“, hat also gar nicht erst begonnen. Alfred hat sein Bein nicht durch eine Splittergranate verloren, und Emily kann ihre große Liebe heiraten, weil der junge Arzt nicht im Ärmelkanal ertrunken ist. Die Trägerin des Literaturnobelpreises 2007 gönnt ihren Eltern in der neuen Novelle ein anderes, freieres Leben. Doch als sie es dann im zweiten Teil des Buches mit der Wirklichkeit vergleicht, drängt sich die Frage auf, ob dieses andere Leben so viel glücklicher ist.
Gewiss, Alfred heiratet eine Frau, die ihn und die beiden gemeinsamen Söhne mit mütterlicher Wärme umgibt. Und als Farmer in England kann er Pferde züchten und reiten und mitten unter Freunden leben. Doch mit dem Tanzen ist es bei all seinen Pflichten auch ohne Holzbein vorbei. Und er wird nie die afrikanischen Landschaften und die Felszeichnungen früher afrikanischer Völker sehen, die ihn so fasziniert und mit all seinen Entbehrungen versöhnt haben.
Emily wird wie im echten Leben Krankenschwester, aber dann heiratet sie ihre große Liebe. Doch die Ehe ist ohne Liebe und bleibt kinderlos. Nur der frühe Tod ihres Mannes macht es Emily möglich, ihr Organisationstalent in den Dienst der Wohltätigkeit zu stellen. Aber die Lieblosigkeit ihres Ehemannes und die gesellschaftlichen Einschränkungen für Frauen haben Emily kaum weniger traumatisiert als die Pflege kriegsversehrter Soldaten und ein Leben als arme Siedlerfrau in Rhodesien. Emily versinkt trotz ihrer allseits bewunderten Aktivitäten in Depressionen.
Kaum mehr als ein Quäntchen Glück hat Doris Lessing ihren Eltern in der fiktiven Biografie gegönnt - mehr traut sie ihnen wohl nicht zu. In ihrem Werk kommt die am 22. Oktober 1919 als Doris May Taylor im persischen Kermanshah geborene Dichterin immer wieder auf das problematische Mutter-Tochter-Verhältnis zurück. „Ich habe meine Mutter gehasst“, gibt sie zu. „Mit sechs lief ich zum ersten Mal davon.“ Neurotische Mütter, die ihre Töchter in den Wahnsinn trieben, sind nach Lessings Überzeugung das direkte Ergebnis des von der Gesellschaft geforderten Verzichts der Frauen auf eigene Berufstätigkeit.
Mit dieser etwas anderen Art der Autobiografie füllt Lessing ein paar Lücken in ihrem Werk und beweist erneut, wie wunderbar sie erzählen kann. Eine zwar verhaltene, altersweise Zeitkritik beweist darüber hinaus, dass ihr Interesse an Politik auch nach ihrer Loslösung vom Kommunismus nach dem Einmarsch des Warschauer Paktes in Ungarn 1956 nicht versiegt ist.
Literaturangaben:
LESSING, DORIS: Alfred und Emily. Übersetzung Barbara Christ. Hoffmann und Campe, Hamburg 2008. 304 S., 19,95 €.
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