MÜNCHEN (BLK) – Im Februar erscheint im C. Bertelsmann Verlag der Roman „Wechselspiele“ von Penelope Lively.
Alles beginnt 1935 auf einer Bank im St. James’s Park. Hier trifft die junge Lorna den Künstler Matt. Die beiden werden ein Paar, obwohl ihre Familie diese Verbindung missbilligt. Auch ihre Tochter Molly und die Enkelin Ruth werden ungewöhnliche und eigensinnige Lebenswege einschlagen. In ihrem neuen großen Roman „Wechselspiele“ nimmt Penelope Lively ihre Leser mit auf eine Zeitreise durch das 20. Jahrhundert – sie zeigt drei unterschiedliche Lebensentwürfe in wechselnden Zeitläufen. Dabei bildet London den Hintergrund für wunderbar erzählte Lebens- und Liebesgeschichten dreier selbstbewusster Frauen.
Penelope Lively, in Kairo geboren, lebt seit 1945 in England. Sie studierte in Oxford Geschichte und hat zahlreiche preisgekrönte Kinderbücher, Romane und Erzählungen veröffentlicht, darunter der Roman „Moon Tiger“, der mit dem renommierten Booker-Preis ausgezeichnet wurde. (jud)
Leseprobe:
© C. Bertelsmann ©
1. Teil
Sie begegneten einander auf einer Bank im St. James’s Park, am 6. Juni 1935. Lorna war nach einem heftigen Streit mit ihrer Mutter in Tränen aufgelöst, Matt fütterte die Wasservögel, damit er sie zeichnen konnte. Unablässig bewegte er die Hand über den Skizzenblock auf seinen Knien, mit der anderen warf er den Vögeln immer neue Brocken zu, um sie bei der Stange zu halten. Er zeichnete, die Enten drängelten und schnatterten, Lorna hörte auf zu weinen und sah mit wachsender Faszination zu. Als Matt sie schließlich bemerkte, warf er einen Blick zu ihr hin und war verloren.
Etwas später gingen sie Tee trinken. Lorna hatte inzwischen erfahren, dass Matt die Enten für einen Auftrag skizzierte, die Illustration eines Buchs über Flussmündungen und Wasserwege. Matt war Künstler und hatte sich vor allem auf Holzstiche verlegt. Er wiederum erfuhr – oder reimte sich zusammen, da es nicht ausdrücklich zur Sprache kam –, dass Lorna irgendwie uneins mit ihrem Leben war. Sie saßen stundenlang bei einer Kanne Tee und einem Teller Kuchen und wanderten dann zeitvergessen durch die Straßen. Als der Tag zu Ende ging, war beiden klar, dass ihr Leben nun eine neue Richtung genommen hatte. Lorna kehrte nach Brunswick Gardens zurück und musste einen weiteren Ausbruch mütterlicher Missbilligung über sich ergehen lassen. Matt wusste nur, dass er Lorna wiedersehen musste, für immer.
Zu gegebener Zeit nahm sie ihn nach Hause mit und stellte ihn ihren Eltern vor, die ihn anfangs durchaus freundlich, wenn auch etwas kühl empfingen. Als Lornas Vater begriff, dass Kunst für Matt kein Hobby, sondern sein Lebensunterhalt war, schlug das herablassende Interesse in frostige Abweisung um. Er erklärte seiner Tochter, dieser Künstler sei ja ein netter Kerl, aber es dürfe auf keinen Fall zu mehr kommen, das ginge nicht an, nicht wahr? Lorna erwiderte, es sei bereits zu mehr gekommen: Sie und Matt seien verlobt. Sie trug einen kleinen viktorianischen Ring am Finger, den sie letzte Woche für zehn Shilling und Sixpence auf dem Portobello Market gekauft hatten. Matt hatte eine Staffelei dafür versetzt.
Gerald Bradley wurde laut; Lorna saß in störrischem Schweigen da. Marian Bradley kam herein, rang die Hände und wurde, so weit einer Dame gestattet, ebenfalls laut. Als sich der Ausbruch erschöpft hatte, nahm Lorna den Dreiundsiebzigerbus nach Islington, wo Matt vor dem ersten Probeabzug des Entenbilds saß. Im Vordergrund ein Gewusel von Enten mit fein gezeichnetem Gefieder, dahinter das glitzernde Wasser und der Blättervorhang der Weiden, die den Blick weit ins Bild lockten und so räumliche Tiefe erzeugten. Der Schauplatz ihrer Begegnung, verwandelt in eine bewusst durchgestaltete Komposition: Sie sah den Ort vor sich, zugleich aber ein Kunstwerk, die brillante Schöpfung von Matts Hand und Auge. Und in einiger Entfernung saß an der Seite, umrahmt von Enten, eine kleine Gestalt auf einer Bank, ein Mädchen – dunkle Haare, die geschwungene Linie eines weißen Kleides. „Das bist du.“ sagte er.
Sie ließen sich im Rathaus von Islington trauen. Trauzeugen waren Matts Freund Lucas Talbot und Lornas alte Schulfreundin Elaine, die in ängstlicher Aufregung ständig wiederholte: „Also ich weiß nicht, was deine Eltern dazu sagen werden.“ Nach vollbrachter Tat nahmen die vier ein unbehagliches Mittagessen in einem Restaurant ein; Elaines nervöses Geplapper verbarg nicht, wie wenig angetan sie von dem hoch aufgeschossenen, schlaksigen Lucas war, der eine kleine Druckerei in Fulham betrieb. Dann fuhren Lorna und Matt nach Brunswick Gardens, um die Bradleys vor vollendete Tatsachen zu stellen.
In den nächsten Jahren erzählten sie sich immer wieder, dass Lornas Vater tatsächlich gesagt hatte: „Treten Sie mir ja nie wieder über meine Schwelle!“ Das war zwar dichterische Freiheit, doch darauf lief es letztlich hinaus. Im Salon fand ein knapper, kalter Wortwechsel statt; die beiden Paare saßen sich frontal auf zwei Sofas gegenüber, dazwischen verströmten Lilien in einer großen Kugelvase ihren Duft im Raum. Irgendwo im Haus tönten die lauten, selbstsicheren Stimmen von Lornas zwei älteren Brüdern, die einander aufzogen. Irgendwann klopfte das Hausmädchen und fragte, ob Tee gewünscht würde, was Lornas Mutter verneinte. Diesmal wurde niemand laut; Marian Bradley war gekränkt und verstimmt, ihr Gatte hatte sich hinter einer verdrossenen Unzugänglichkeit verschanzt. Zwischen ihnen tat sich eine breite Kluft auf, in die die Lilien ihren süßlichen Duft absonderten. So viel Unausgesprochenes hing in der Luft, bis es niemand länger aushielt und Lorna in ihr Zimmer hochging, um einen Koffer mit Kleidung zu packen; Matt wartete in der Eingangshalle. Oben kippte Gerald einen doppelten Whisky, und Marian klingelte nach dem Hausmädchen: Vielleicht war Tee doch kein schlechter Gedanke.
„Was ist so schlimm an einem Künstler?“ fragte Lorna viel später. „Sie hatten Kunst an den Wänden hängen. Sie haben Bilder gekauft. Daddy hat bei William Nicholson ein Porträt von Mummy in Auftrag gegeben.“
Und Matt lachte. „Genau. Ein Künstler ist ein Auftragsempfänger. Nicht die Art von Ehemann, den man sich für seine Tochter wünscht. Der Lebensstil genauso ungeregelt wie das Einkommen. Dein Vater hatte ganz recht.“
Die Beziehungen wurden nach einigen Monaten wieder aufgenommen, jedenfalls ansatzweise. Briefe und Weihnachtskarten wurden ausgetauscht. Inzwischen war Lorna ein anderer Mensch geworden, vielleicht die Person, die sie schon immer hatte sein sollen. Ihre Mutter verfasste schwungvolle kleine Berichte über gesellschaftliche Ereignisse und die Sporttermine der Jungs; zum Geburtstag schickte sie Lorna ein seidenes Geldtäschchen von Harrods. Als Lorna das Päckchen am Küchentisch in Somerset aufmachte, hatte sie das Gefühl, einen Gegenstand von einem anderen Planeten zu erhalten; ihr vergangenes Leben kam ihr nun vor wie ein Mythos, ein Ort, an dem sie ihre früheren Jahre verträumt hatte.
Matt wusste nur, dass er vollkommen glücklich war und von ganzem Herzen liebte, dass Jahre dieses Glücks vor ihm lagen und auf ihn warteten.
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Literaturangaben:
LIVELY, PENELOPE: Wechselspiele. Roman. Aus dem Englischen von Maria Andreas. C. Bertelsmann, München 2009. 336 S., 19,95 €.
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