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Dresdner Erkundungen

Uwe Tellkamp führt durch seine Heimatstadt

© Die Berliner Literaturkritik, 09.03.11

BERLIN (BLK) – Im November 2010 hat der Insel Verlag „Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen“ von Uwe Tellkamp herausgebracht. Die Fotographien hat Werner Lieberknecht gemacht.

Klappentext: Nach dem grandiosen Erfolg seines Bestsellers „Der Turm“ führt Uwe Tellkamp uns erneut in seine Heimatstadt Dresden. Auf den Stationen dieser Reise erwartet uns eine Fülle von Geschichten, die sich zu einer einzigartigen Erzählung der Stadt zusammenfügen. Wir begegnen der Klavierlehrerin Adolzaide und dem Vorsitzenden der Quittengesellschaft, hören Gesprächen über die Frauenkirche, Dresdner Maler und Architektur zu, besuchen den Jungen, dem in einem Johannstädter Plattenbau eine Tube Schuhcreme zum Gleichnis für den Traum vom Meer wurde. Dresden ist ein Stück Italien, und eine Laufmaschenreparatur ist in Wahrheit eine Filiale des Amts zur Wiederherstellung der Schönheit. In der Bunten Republik Neustadt lebt Q., die Brombeeren und die Zahl 19 liebt. Zwergpudel Caligula, der die Dame mit Hut Gassi führt, gelangt nur bis zum linken Vorderreifen des Autos vom Koch. Die Schwebebahn wird zum Bild des Lebens in seiner sinnlichen Vielfalt, poetisch, humorbegabt. Mit den Aufzeichnungen eines Rüsselkäfers.

Uwe Tellkamp wurde 1968 in Dresden geboren. Nach seinem Wehrdienst in der NVA verliert er wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ seinen Medizinstudienplatz, wird 1989 im Zuge der Wende inhaftiert und setzt danach sein Studium in Leipzig, New York und Dresden fort. Nach seinem akademischen Abschluß arbeitete er als Arzt in einer unfallchirurgischen Klinik in Dresden. Derzeit lebt er als Schriftsteller in Freiburg. Bislang sind von ihm erschienen: „Der Hecht, die Träume und das Portugiesische Café“ und „Der Eisvogel“. Für seinen Roman „Der Turm“, seinem ersten Buch im Suhrkamp Verlag, erhielt er 2008 den Deutschen Buchpreis.

Leseprobe:

©Insel Verlag©

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Das Dresden meines Temperaturgedächtnisses ist eine Winterstadt voller Fernwärmerohre und Heizungen, von deren Rippen die Farbe abgeplatzt war; oft lag ich, ein Junge von zehn oder elf Jahren, nachts wach und lauschte den Flüsterstimmen der Gespenster, die in der Braunkohle wohnten und durch die Überredungskünste von Riesaer Sicherheitszündhölzern und Flammat-Kohleanzünder (weiß, hartseifig – oder braun und zäh wie „Plombenzieher“-Toffeebonbons) aus ihren tertiären Schlafstätten gelockt wurden. Das Land driftete, gegen die kontinentale Geographie durch eine Betonmauer abgedichtet. Der Elbhang war ein Pflanzenkorb, vergiftet vom Fluß, der schwarzen Aorta der Stadt. Immer wieder ging es um Infiltration, erobernde Kräfte. Die herrschten, wollten in die Köpfe derer, die beherrscht wurden – die beherrscht wurden, wollten das, was in ihre Köpfe wollte, aus ihren Köpfen heraushalten; dadurch begannen auch sie zu herrschen, auf die dubiose, unerklärliche Weise, die den Gejagten Züge der Jäger verleiht. Insofern ist Macht eine Geisteswissenschaft. Verblüffend war, daß die trojanischen Schichten in Dresden umgekehrt lagen: Vergangenheit oben, auf den Dachböden; Zukunft, in Form von winterharten Lebensmitteln, Reparaturmaterial, Brennstoff, in den Kellern. Gefrorene Wespennester, Zellstoff-Pagoden ähnlich, waren Vorboten des Eindringens, gegen das die Bilder, die Klänge, die Namen helfen sollten.

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Für den Jungen, der ich war, gab es kaum einen anziehenderen Ort als den Dachboden der Oskar-Pletsch-Straße 11, Weißer Hirsch, das zweite Haus, nach einem Johannstädter Plattenbau, das auf mich den Eindruck einer Persönlichkeit machte. Wenn die Winde schnauften und das Schneegestöber weiße Mauern um den Elbhang wachsen ließ, knarrten die Dachbalken, als gehörten sie zur „Hispaniola“, dem Schatzinselsegler; manchmal hörte ich Käpt’n Flints schrille Stimme nach seiner Mannschaft rufen und sah, wenn die Glühbirne im Dachfirst mit Licht zu knausern begann, John Silver durch eine Hafengasse hinken, Billy Bones im „Admiral Benbow“, begleitet vom betrunkenen „Fünfzehn Mann auf des Toten Mannes Kiste“, in der Truhe nach der Schatzkarte wühlen. Wenn ich mich jetzt, wieder von einem Dachboden, an diese entrückten Winter erinnere, gehe ich auf Reisen wie damals, als ich dick eingemummt zwischen Koffern und Kartons mit Weihnachtsutensilien hockte. Zwischen mir und dem Jungen liegt mehr als die 89er Revolution und eine tiefe Flutmasse Zeit; es liegt der Abstand zweier Planeten zwischen uns, von denen der eine, das Dresden als DDR-Provinzhauptstadt, mit dem Schelfeis der Vergangenheit bedeckt ist, und der andere, das Dresden der Gegenwart, mit digitalen Benutzeroberflächen. Und es ist ein Spinnenfaden nur, von Südsonne beglänzt, scharfrichterlich wie die Klinge eines langsam gehobenen Schwerts, der den einen Flugkörper mit dem anderen verbindet, meine Tintenmanufaktur voller Papier und Mappen mit den rötlichen Pfetten, dem Geruch nach Holz, der Spinnwebharfe in der Ecke des Dachbodenfensters Oskar-Pletsch- Straße 11, reißbrettgenau wie die Schraffur einer vorbildlich präzisen Grafikerin; Linien, myzelzart, zugleich kraftvoll – eine nach Lebendigem fischende Radierung. Wenn ich mich vor dem Fenster bücke, greift eine Baumkrone in die Wolken, die ihre Graugansbäuche mästen und gravitätisch, eine Kauffahrtei der Daunen, vorüberziehen; eins kommt zum andern, so daß ich, ein Rasiermesser aus dem Friseursalon Harand, mit Herkunftsschildchen bei Ausverkauf versehen, in der Hand, als Seiltänzer den Gang über den Spinnwebfaden antreten kann. Der Weiße Hirsch –

… Friseursalon Harand: Rote Brennesseln verätzten unser Gesichter, wenn wir, eine Horde Jungen vor der Jugendweihe oder Konfirmation, den Anweisungen des Demonstrators am eingeseiften Luftballon nicht genau Folge leisteten und die Rasiermesser falsch führten; rot, das war zum Erstaunen, rote Schneewittchenflecken in Harands weißen Tüchern. Der Salon befand sich in der runden Ecke Lahmannring / Collenbuschstraße und hatte getrennte Eingänge für Damen und Herren; am Dameneingang begann die Sphäre der Kaltwelle und Wasserstoffblondierungen, der Modezeitschriften und Trocknerhauben, unter denen die mit intrigengelben Lockenwicklern fixierten Frisuren gemächlich schwatzender, in der „FF Dabei“ und „Neuen Berliner Illustrierten“ blätternder Rentnerinnen dörrten. Am Dameneingang begann die Manöverkritik der jüngsten Vorgänge, Inneneinrichtungen, Liebschaften und Scheidungen im Viertel, schwappte, wenn die Damen sich im Bewußtsein lebenstüchtiger Frisurtriumphe ein Dresdner Gedeck (Kaffee, Eierschecke) im Parkhotel gönnten, in den Schlitzohr-Charme seines Betreibers und daraus, im Bunde mit den Einflüsterungen eines Stehgeigers, wieder ins Viertel zurück. Unterwegs von der Schule, mit der Jovialität des Schauspielers Dehler aufgeladen, der in der Kurparkstraße seinen Opel Kapitän wusch und mit Ochsensuppenbaß: Was wollt ihr in diesem Hain (er sprach den Holländermichel in einer bekannten Aufnahme von Hauffs „Kaltem Herz“) donnergrollte, trafen wir ängstliche Absprachen über den Augenblick, wenn wir den Herreneingang des Friseursalons Harand passieren würden, an einem Schirmständer vorbei den Vitrinen mit Vorkriegsreklamen entgegen, bis zur Phalanx aus weißbekittelten Autoritäten; den Moment, wenn Harands Gehilfen die Köpfe von ihrem aktuellen Geschäft heben und knapp taxierende, uns sofort zum „Kroppzeug“ ordnende Blicke ausklappen würden, jeder der Friseure mit gesticktem Namen auf der Kittelbrusttasche, aus der Zinken eines schwarzen Ebonitkamms und, wie das Brillenmuster einer Kobra, zwei Scherenaugen ragten. Und dabei half uns noch der Geruch der Schlämmkreide auf den Tennisplätzen des TC Bad Weißer Hirsch, das Geräusch der Schleppen, mit denen wir die Aschegevierte abzuziehen hatten, wenn wir spielen wollten, die Wucht eines gutsitzenden Returns (wir spielten noch mit weißen, markenlosen Tennisbällen, unsere Schläger waren aus Holz und schwer, nach dem Spiel mußten wir die Schlagfläche im Spannrahmen justieren); es halfen die Wasserkünste der Brunnen-Hygieia im Rathauspark, der verfallende Konzertplatz mit seinen von den Buchen ringsum herbeigekehrten Erinnerungen an Akkordeonschluchzen, Kurorchester und die frivol-augenzwinkernden Couplets der Gassenhauerzeit („… kleine entzückende kleine berückende fahrkartenzwickende Hand“ einer Schaffnerin) gegen die machtausübende Musterung, der wir unterzogen wurden und der ein mehr oder weniger Widerspruch duldendes Platzzuweisen, robustes Durchseifen unserer von Wald und Feld verborsteten Kopfgestrüppe unter wie Teekannentüllen gebogenen Hähnen, schließlich, wir bekamen unsere Frisuren einfach verpaßt, das ungefragte Scheren folgte, rasche, vierschrötige Erledigung einer Dauerlieferung, im Gegensatz zum schmeichlerischen Umschwänzeln der Honoratioren, deren Häupter nicht wie unsere „Nischel“ ins Waschbecken in den routiniert geprüften Strahl getunkt, sondern einfühlsam und servil, in Sichtweite der Autogramme von Grethe Weiser, Heinz Rühmann „alias Quax, der Bruchpilot“, Theo Lingen, unter den wohltemperierten Wassern von Dresden massiert wurden.

©Insel Verlag©

Literaturangabe:

TELLKAMP, UWE: Die Schwebebahn, Dresdner Erkundungen, mit Fotos von Werner Lieberknecht, Insel Verlag, Berlin 2010, 165 S., 19,90 €

Weblink:

Insel


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