Münchnen (BLK) – Soeben ist im Carl Hanser Verlag Herta Müllers Erstling „Niederungen“ in neuer Auflage erschienen.
Klappentext: „Niederungen“ ist das Buch, mit dem Herta Müller auf einen Schlag bekannt wurde: In eindringlichen Szenen beschreibt die Nobelpreisträgerin das Leben der deutschsprachigen Banatschwaben im kommunistischen Rumänien, und sie beschreibt es als düstere Anti-Idylle in einer Enklave, die von Angst und Hass geprägt ist, von Intoleranz und Unbeweglichkeit. Diese schonungslose Chronik einer untergehenden Welt ist bereits die Grundlage eines Werkes, das sich seither immer breiter entfaltet hat. "Niederungen" erschien 1984 in Deutschland in einer gekürzten Form. Die Neuausgabe bringt Herta Müllers Debüt zum ersten Mal in der originalen Fassung.
Herta Müller, 1953 in Nitzkydorf/Rumänien geboren, lebt seit 1987 als Schriftstellerin in Berlin. Bei Hanser erschienen „Der König verneigt sich und tötet“ (2003), „Die blassen Herren mit den Mokkatassen“ (2005), „Herztier“ (Neuausgabe, 2007), „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ (Neuausgabe, 2009) und zuletzt „Atemschaukel“ (2009). Für ihre Werke wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Sie ist die Literaturnobelpreisträgerin 2009.
Leseprobe:
©Carl Hanser Verlag©
Die Grabrede
Auf dem Bahnhof liefen die Verwandten neben dem dampfenden Zug her. Bei jedem Schritt bewegten sie den hochgehobenen Arm und winkten.
Ein junger Mann stand hinter dem Zugfenster. Die Scheibe reichte ihm bis unter die Arme. Er hielt einen Strauß weißer, zerfledderter Blumen vor der Brust. Sein Gesicht war starr. Eine junge Frau trug ein fades Kind aus dem Bahnhof hinaus. Die Frau hatte einen Buckel.
Der Zug fuhr in den Krieg.
Ich knipste den Fernseher aus.
Vater lag in einem Sarg mitten im Zimmer. An den Wänden hingen so viele Bilder, dass man die Wand nicht sah. Auf einem Bild war Vater halb so groß wie der Stuhl, an dem er sich festhielt. Er hatte ein Kleid an und stand auf krummen Beinen, die voller Speckfalten waren. Sein Kopf war birnenförmig und kahl.
Auf einem anderen Bild war Vater Bräutigam. Man sah nur seine halbe Brust. Die andere Hälfte war ein Strauß weißer, zerfledderter Blumen, die Mutter in der Hand hielt. Ihre Köpfe waren so nahe nebeneinander, dass sich ihre Ohrläppchen berührten.
Auf einem anderen Bild stand Vater kerzengerade vor einem Zaun. Unter seinen hohen Schuhen lag Schnee. Der Schnee war so weiß, dass Vater im Leeren stand. Seine Hand war über den Kopf gehoben zum Gruß. Auf seinem Rockkragen waren Runen.
Auf dem Bild, das daneben hing, hielt Vater eine Hacke auf der Schulter. Hinter ihm stand ein Maisstengel, der in den Himmel ragte. Vater hatte einen Hut auf dem Kopf. Der Hut warf einen breiten Schatten und verdeckte Vaters Gesicht.
Auf dem nächsten Bild saß Vater am Lenkrad eines Lastautos. Das Auto war mit Rindern beladen. Vater fuhr jede Woche die Rinder ins Schlachthaus in die Stadt. Vaters Gesicht war schmal und hatte harte Kanten.
Auf allen Bildern war Vater mitten in einer Geste erstarrt. Auf allen Bildern sah Vater so aus, als ob er nicht mehr weiterwusste. Aber Vater wusste immer weiter. Deshalb waren alle diese Bilder falsch. Von den vielen falschen Bildern, von allen seinen falschen Gesichtern war es kalt geworden im Zimmer. Ich wollte mich vom Stuhl erheben, aber mein Kleid war an dem Holz festgefroren. Mein Kleid war durchsichtig und schwarz. Wenn ich mich rührte, knirschte es. Ich saß darin wie in Glas gegossen. Ich erhob mich und berührte Vaters Gesicht. Es war kälter als die Gegenstände in dem Zimmer. Draußen war es Sommer. Die Fliegen ließen im Flug ihre Maden fallen. Das Dorf zog sich neben dem breiten Sandweg hin. Er war heiß und braun und brannte einem mit seinem Glimmer die Augen aus.
Der Friedhof war aus Geröll. Auf den Gräbern lagen große Steine.
Als ich auf den Boden sah, merkte ich, dass meine Schuhsohlen nach oben gekehrt waren. Ich war die ganze Zeit über auf meinen Schnürsenkeln gegangen. Sie lagen lang und dick hinter mir. An den Enden ringelten sie sich ineinander.
Zwei kleine wankende Männchen hoben den Sarg vom Leichenwagen und senkten ihn mit zwei zerriebenen Stricken ins Grab. Der Sarg schaukelte. Ihre Arme und ihre Stricke wurden immer länger. Das Grab war trotz der Trockenheit mit Wasser gefüllt. Dein Vater hat viele Tote auf dem Gewissen, sagte eines der betrunkenen Männchen. Ich sagte: Er war im Krieg. Für fünfundzwanzig Tote hat er eine Auszeichnung bekommen. Er hat mehrere Auszeichnungen mitgebracht.
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Literaturangabe:
MÜLLER, HERTA: Niederungen. Carl HanserVerlag, München. 176 S., 16,90 €.
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