Von Jörn Perske
BAD HERSFELD (BLK) — Rein optisch bekleidete Désirée Nick die Hauptrolle. Die für ihre schrille Art bekannte Entertainerin räkelte sich gelenkig wie eine Gymnastin in einem engen, türkisfarbenen und glitzernden Pailletten-Anzug auf der Bühne der altehrwürdigen Stiftsruine in Bad Hersfeld. Das dekolletierte Kostüm der schillernden Nymphe „Kalypso“ war zwar der Blickfang bei der Eröffnungspremiere der Festspiele. Doch im Mittelpunkt der Uraufführung von Homers Heldenepos „Odyssee“ standen andere.
Markus Gertken absolvierte in seiner Rolle als Odysseus am Samstagabend (13.6.) einen fast zweistündigen Marathon-Auftritt. Er bewältigte ihn kraftvoll und überzeugend. „Das hat mir heute einiges abverlangt. Stimmlich ist es sehr anstrengend auf dieser großen Freilicht-Bühne“, sagte Gertken leicht erschöpft bei der Premieren-Party in der Nacht. Eine Augenweide war Anna Franziska Srna. Als Penelope präsentierte sich die rothaarige Power-Frau voller Energie.
Wie den 1.600 Zuschauern in Europas größter romanischer Kirchenruine die düstere und unkonventionelle Inszenierung von Regisseur Torsten Fischer gefiel, vermochte der Beifall nicht eindeutig zu verraten. Der minutenlange Applaus schwoll nur etwas zögerlich an. Und war nicht so gewaltig wie zum Beispiel im Vorjahr, als Fischer mit „Die Jungfrau von Orléans“ die Zuschauer zum Tosen brachte. Was diesmal jedoch wohl in erster Linie am Stoff lag.
„Theater handelt ja nicht von den schönen Dingen des Lebens, sondern eher von den bösen Seiten. Ich hoffe, es war harte Kost — aber dennoch poetisch“, sagte Fischer, der ebenso großen Anteil an der eindrucksvollen Premiere hatte wie Herbert Schäfer. Der Autor und Dramaturg zeichnete für die Bühnenfassung verantwortlich. Der nach dieser Saison scheidende Fischer arbeitete zwar diesmal nicht so sehr mit großen Bildern. Die Bühne war dennoch interessant gestaltet.
Die riesige Spielfläche in der Stiftsruine setzte er weitgehend unter Wasser und grenzte sie mit einer Nachbildung der Berliner Mauer ein. Sie symbolisierte die Trennung zwischen den Welten von Menschen und Göttern. Die seefahrenden Kämpfer an Odysseus' Seite wateten durch knöcheltiefes Wasser eingelassener Bassins. Einige Götter trugen Gummistiefel oder -schuhe. Ein Darsteller rutschte böse aus.
Die Sagengestalt des irrfahrenden Troja-Heimkehrers interpretierte Fischer nicht nach klassischer Lesart der altgriechischen Vorlage. Er zeigte Odysseus als barbarischen, mordenden und widerwärtigen Anti-Helden. Wer den listigen Eroberer als strahlenden Helden sehe, sitze einem Irrtum auf. „Diese Sichtweise deckt sich auch mit der von Professor Hans Joachim Gehrke“, sagte Fischer. Von einem Vortrag des Präsidenten des Deutschen Archäologischen Instituts fühlte er sich voll bestätigt.
Gertken fand die Demaskierung des „Odysseus“ als rücksichtslosen Machtmenschen spannend: „Das war in dieser Rollenauslegung die größere Herausforderung. Fischer wollte einen radikalen Anspruch umsetzen.“ Der Regisseur erläuterte: „Ich wollte zeigen, dass Kollektive eine böse Kraft entwickeln können.“
Mit verführerischer Kraft hingegen präsentierte sich Désirée Nick. Die 52-Jährige imponierte auch mit ihrer Gelenkigkeit und ließ ihre Qualitäten als ehemalige Balletttänzerin aufblitzen. „In meinen Shows bekommt man mehr zu sehen — Spagat und das komplette Programm. Dazu war das nur ein Appetithäppchen“, warb die blonde Berlinerin, die im Fernsehen 2004 als RTL-Dschungel-Königin für Aufsehen gesorgt hatte. Zu ihrem Auftritt in Bad Hersfeld sagte sie: „Es war anstrengend, aber in konstruktiver Weise. Premieren sind wie Kinderkriegen — das ist auch immer ein Ausnahmezustand. Für mich ist Anstrengung aber auch immer ein Energiequell.“