Einundzwanzig Tage im Ayurveda-Resort in Kottegoda, Sri Lanka—nichts als Relaxen, Ruhe und Entspannung, die Hoffnung auf neue Kräfte und Energie. Wolfgang hat sich drei Wochen Auszeit genommen vor dem Herbst und dem unwiederbringlichen Fortschreiten seiner Krankheit: Polio, genauer gesagt dem Post-Polio-Syndrom, kurz: PPS. Die Medizin kennt keine Heilung, nur Linderung und versucht ein Aufhalten. Nach langen, relativ stabilen Phasen von zehn bis 15 Jahren treten bei Patienten, die als Kind an Poliomyelitis erkrankten, die gefürchteten Spätfolgen auf: neue Muskellähmungen, starke Erschöpfung und Schmerzen. Der gehasste Rollstuhl wird unausweichlich, der wirkliche Kampf beginnt: die körperlichen Einschränkungen akzeptieren lernen, sein Leben umstellen, die Angst vor dem Zukünftigen gering halten.
Wolfgang ist über fünfzig und einer von schätzungsweise über Zehntausend PPS - Betroffenen in Deutschland. Er ist nicht das erste Mal im Eastergarden - Resort an der srilankischen Küste. „Welcome“ steht im winzigen Blüten geschrieben auf dem Laken seines Apartments: Willkommen bei Yoga, Meditation und Massagen, dem Entschlackungs- und Reinigungsritual, genannt Panchakarma, und einer nach Typ und Konstitution bemessenen Ernährung. Der Kurreisende wird den Leser mitnehmen zu den Kopf - und Ölgüssen in den Cabanas (Hütten), ihm in einundzwanzig Kapiteln berichten vom Alltag im idyllisch gelegenen Resort, von seinen Begegnungen, Hoffungen und Träumen—und von seinem bisherigen Leben. Wolfgang ist der Protagonist von „Papaya mit Rosinen“, des ersten, und stark autobiografisch gefärbten, Romans von Helmut Gotschy, der 1953 in Neu - Ulm geboren wurde und dem die Krankheit Polio Begleiter war und ist—seit dem achten Lebensjahr, mal mehr, mal weniger, aber immer präsent und immer lästig.
„Papaya mit Rosinen“, das gleich vorweg, lamentiert nicht, klagt nicht, ist weder Betroffenheitsbericht eines ach so leidvoll vom Schicksal Geplagten noch ein Hohelied auf die südasiatische „Lebensweisheit“ und „geistige Entschlackung“ mittels Einlaufs und Erbrechen (so die deutschen Übersetzungen für „Ayurveda“ und „Panchakarma“), vielmehr—und das macht das Buch so interessant und auch vielschichtig—die spannende Erzählung einer ungewöhnlichen Biografie, eines abenteuerlichen und zuweilen risikoreichen (Tramper-)Lebens zwischen Deutschland, Irland und dem damaligen Ziel aller Hippies, Indien. Es berichtet von der wilden Zeit des „Sex and Drugs and Rock ‚n’ Roll“ in den 1970er und 1980er Jahren, die bis heute nachhallt in den Erinnerungen der Altachtundsechziger und all derer, die diese Zeit prägte, bevor sie sich zum Mythos verklärte.
Helmut Gotschy alias Wolfgang hat sie erlebt: die muffige Enge der süddeutschen Kleinstadt Anfang der Sechziger, die Monate auf der Kinderstation mit Metallschienen und Ledermanschetten, die Turnerei zusammen mit an Skoliose (Scheuermann) Erkrankten, das Abendbrot mit Blutwurst, Bratkartoffeln und ekelhaftem Himbeersaft. Er hat sie gespürt, die aufsteigende Wut gegen die gestrenge Schwester in Ordenstracht, den Zorn auf die Krankheit, das Unverständnis der kleingeistigen Nachbarn, als er, schon über zehn, auf dem Schlitten durch die verschneiten Straßen gezogen wurde von der Mutter. Er hat den Bauern gehört, der ihn „Saukrüppel“ schimpfte, weil er nicht schnell genug runterkam von Heuboden der Scheune. Dem Stigma der Krankheit entfliehen, auch der Umklammerung der Mutter, und seinen Weg finden—es würde lange dauern und manch Umwege brauchen. Und doch war es nur eine Flucht auf Zeit, ein Aufschub vielleicht. Und bis wann?
Sich ins Leben stürzen, das konnte man in Berlin, der geteilten Frontstadt und damaligen Hauptstadt der Kiffer und Kommunarden, in Moabit saufen, in einer Ladenwohnung in Kreuzberg hausen und am Stutti oder Savignyplatz bei Bier und Zigaretten die Nacht durchmachen. Oder per Anhalter gen Frankreich aufbrechen, nach Irland, oder südostwärts Richtung Griechenland, ach, noch weiter, nach Afghanistan, Pakistan, der vermeintlichen Erleuchtung unter indischer Sonne entgegen. Aussteiger und Hippies zogen über den Khyberpass, damals, noch bevor er verbotene Zone wurde für Ausländer, damals, als Wolfgang einen Zug aus der Zigarette nahm, die der Afghani gedreht hatte und zwischen deren Tabak schwarze Klümpchen steckten. Als ein Kokon ihn plötzlich umhüllte und alles, auch der schaukelnde Bus und die Musik Alan Parsons, ihm völlig gleichgültig wurde—alles, bis auf ein einziges allumfassendes Gefühl: Ich bin!
Dass Wolfgang nicht absoff, nicht verloren ging auf den Traum - und Fernstraßen jener Zeit, verdankt er dem Zufall, dem Glück vielleicht, doch eher seiner tragenden Verwurzelung in einer intakten Clique, der Kraft der Freundschaft, der Liebe, ja, und auch dem Willen, dieses Leben trotz körperlicher Einschränkungen zu meistern—und das ganz handwerklich konkret: Ende der Siebziger begann Wolfgang mit dem Bau von Musikinstrumenten, später dann spezialisierte er sich auf Drehleiern. Ganz wie Helmut Gotschy, der mittlerweile knapp achthundert dieser Instrumente gebaut und verkauft hat und als anerkannter Spezialist seines Faches gilt. Er ist sesshaft geworden, hat geheiratet, drei Kinder, ein Heim im süddeutschen Raum. Im Jahr 2000 veröffentlichte er sein erstes Buch „Bau einer Drehleier“, im März dieses Jahres ist sein Roman „Papaya mit Rosinen“ erschienen.
„Der Aufenthalt im Ayurveda Resort Vattersgaden in Sri Lanka hat mich inspiriert, das Resort in den Handlungsrahmen zu integrieren“, schreibt Gotschy. „Die Personen und Dialoge sind teilweise frei erfunden, wobei sich Ähnlichkeiten mit lebenden Personen nicht immer ganz vermeiden ließen [...] Die Rückblenden entsprechen in Grundzügen den eigenen Erlebnissen.“ Diese Authentizität spürt der Leser, und die Kraft, die hinter der Anstrengung liegt, nein, nicht dieses Buch zu schreiben, sondern einer Einschränkung zu trotzen, die lähmt, wenn die Seele müde wird, der Geist träge und nicht mehr empfindsam ist für den Duft der Papaya, die Trommel - und Schalmeienklänge der buddhistischen Mönche, die flüchtigen Töne der Radleier—und die Freude, ja auch Enttäuschung der Liebe.
Von Monika Thees
Literaturangabe:
GOTSCHY, HELMUT: Papaya mit Rosinen. Roman. Fünf Raben Verlag, Eichstätt 2009. 348 S., 17,80 €.
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