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Durch die Hölle

John Burnsides Buch über seinen Hass auf den Vater.

© Die Berliner Literaturkritik, 05.04.11

MÜNCHEN (BLK) – Der Knaus Verlag hat im März 2011 das Buch „Lügen über meinen Vater“ des englischen Autoren John Burnside herausgebracht. Bernhard Robben hat es ins Deutsche übersetzt.

Klappentext: Am Ende wünscht John Burnside seinem Vater nur noch den Tod. Er hat für den Mann, der über Jahre die Familie terrorisiert, der lügt und säuft, einzig Hass übrig. Doch er verbirgt seine Gefühle und schweigt. Bis die Begegnung mit einem Fremden ihn zwingt, sich seinen Erinnerungen zu stellen und diese Geschichte von alttestamentarischer Wucht zu erzählen. Der Vater war ein Nichts. Als Säugling auf einer Türschwelle abgelegt. Zeitlebens erfindet er sich in unzähligen Lügen eine Herkunft, will Anerkennung und Bedeutung. Er ist brutal, ein Großmaul, ein schwerer Trinker, ein Tyrann. Seine Verachtung zerstört alles, die Mutter, die Familie, John. Dieser hat als junger Mann massivste Suchtprobleme, landet in der Psychiatrie und erkennt in den eigenen Exzessen den Vater. Erst die Entdeckung der Welt der Literatur eröffnet ihm eine Perspektive. Nur einem Autor vom Kaliber John Burnsides kann es gelingen, eine solche, auch noch autobiographische Geschichte in Literatur zu überführen. So ist dieses Buch ein radikal wahrer Blick in die menschlichen Abgründe und zugleich eine Feier der Sprache.

John Burnside wurde am 19. März 1955 in Dunfermline, Schottland geboren. Er studierte Englisch und Europäische Sprachen am Cambridge College. Seit 1996 lebt er als freier Schriftsteller in Fife. Mittlerweile zählt er in seiner schottischen Heimat neben A. L. Kennedy zu den bedeutendsten Gegenwartsautoren. Für sein Werk aus Lyrik und Prosa erhielt er zahlreiche Preise. Sein von der Kritik hoch gelobtes Erinnerungsbuch „A Lie About My Father“ wurde ein Bestseller.

Leseprobe:

©Knaus©

Jedes Jahr kommt es wie eine Überraschung. Die Blätter flammen auf, werden purpurrot und buttergelb, und dann, am frühen Morgen, schlägt das Wetter um, das hatte Grün des Spätsommers weicht sanftem Grafit und gelegentlich wundersamem Wachtelgrau. Alles leuchtet noch einmal auf, ehe es fortbrennt; so wie den sterbenden plötzlich neue Hoffnung packt, nur Stunden bevor sein Leichnam in einem kühlen Nebenzimmer ausgelegt, gewaschen und zum letzten Mal angekleidet wird. Mir wurde in meiner Kindheit nicht beigebracht, dass die Toten an Halloween wiederkehren, doch wurde die Möglichkeit auch nie ganz ausgeschlossen; nein, nicht die Toten kehren wieder, sondern deren Seelen: Ob als einzelner Atemhauch schwindenden Bewusstseins oder als konzentrierte, kompakte Masse, darauf kam es nicht an. Ich wusste nur, da draußen geisterte die Seele in einer ihrer vielen Gestalten umher, als Gespenst  oder Wiedergänger, als Lufthauch, Licht- oder Feuergespinst, vielleicht auch nur als unerklärliche Erinnerung, ein im Hinterstübchen meines Gedächtnisses archivierter Schnappschuss, ein Bild, von dem ich bis zu diesem Augenblick nichts geahnt hatte.

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   So kommt es, dass ich Halloween mein Leben lang mit dem üblichen Anschein von Skepsis und einem Gefühl beinahe absoluter Gewissheit begangen habe. Wann immer möglich, bin ich in all den Jahren an diesem Tag zu Hause geblieben. Ich mache diesen Tag zu etwas Besonderem, zu meinem privaten Fest der Buße und des Gedenkens, und dies zu mehr oder weniger gleichen Teilen. Ich denke an die eigenen Toten da draußen unter den Millionen wiederkehrenden Seelen, denen es in dieser einen Nacht gestattet ist, Orte aufzusuchen, die sie einst kannten, Häuser, in denen sie gewohnt haben, Straßen, auf denen sie zur Arbeit oder zu einem heimlichen Stelldichein gegangen sind. Und ich rufe mir in Erinnerung, warum in meinem Teil der Welt die Lebenden an diesem Tag Feuer aufschichten, die, sobald die Nacht anbricht, überall im dunkelnden Land zur selben Zeit angezündet werden. Anders, als es der schlichte Aberglaube will, geschieht dies nicht, um böse Geister zu vertreiben. Nein, Zweck dieser Feuer ist es vielmehr, den Weg zu erhellen und den Geistern ein wenig Wärme zu bieten, sind sie uns doch so ähnlich, dass wir untereinander austauschbar scheinen – die Lebenden und die Toten, Gast und Gastgeber, Hauseigner und Geist, mein Vater und ich. Eines Tages sind wir womöglich alle Geister, und die Geister, die wir heute bewirten, werden wieder leben und atmen. Vielleicht hat in der Vergangenheit jeder von uns einmal gewusst, wie es ist, nach Hause zu kommen und das eigene Heim seltsam fremd vorzufinden, den Garten verändert, die Küche voller Unbekannter.

  Damit Halloween seinen rechten Lauf nimmt, muss zusammengearbeitet werden. Die Toten wie die Lebenden haben ihre  Rolle zu spielen. Der Grund, warum ich an Halloween möglichst zu Hause bleibe – wo auch immer zu Hause für mich gerade sein mag –, ist nicht nur der, dass ich mir meiner Rolle in diesem Ritual bewusst bin, sie zu übernehmen gar für meine Pflicht halte, sondern auch weil ich weiß, wie verletzlich ich in diesen Zeiten bin. An Halloween nämlich kommt es nicht nur zu Heimsuchungen, sondern auch zu subtilen Veränderungen und Verwerfungen, zu kaum wahrnehmbaren Transformationen, die, wenn sie sichtbar werden, den Lebensweg bereits auf immer verändert  haben. Wenn an Halloween die Geister umgehen, fühle ich mich offener und wachsamer, zugleich aber auch bedroht. Am besten sitze ich an solchen Tagen daheim, bis der Morgen anbricht und ich meine zufriedengestellten Geister wieder fortschicken kann.

  Es hat jedoch Zeiten gegeben, da musste ich an Halloween fort sein, auf der Straße, unterwegs nach irgendwo, allein, ungeschützt, um vergessen zu können, was ich zu sein glaubte. So fuhr ich etwa vor zehn Jahren, als sich der Tag der Toten näherte, durch die Region der Finger Lakes im Staat New York, allein in einem Mietwagen. Ende Oktober war ich in Rochester angekommen und suchte nun nach einer Kleinstadt unweit vom Lake Keuka. Ich hatte mich bald verirrt, vielleicht absichtlich, war ich doch in einer Gegend, in der man sich leicht verirren konnte, diese vielen kleinen Straßen, die an so schöne und stille Orte führten, wie ich sie bis dahin noch nie gesehen hatte. Ich hatte  an jenem Morgen also gründlich die Orientierung verloren, als ich hielt, um den Clown mitzunehmen. Nur ahnte ich nicht, dass er ein Clown war, dabei hätte sein Aussehen es mir verraten können, auch die Art, wie er an der Straße stand, mit großem Gleichmut, obwohl kaum Verkehr herrschte und er nicht wusste, ob ich ihn mitnehmen würde. Er schien kein Ortsansässiger zu sein, wirkte aber wie jemand, der sich auskannte

©Knaus©

Literaturangabe:

BURNSIDE, JOHN: Lügen über meinen Vater. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Knaus Verlag, München 2011. 384 S., 19,99 €.

Weblink:

Knaus


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