HAMBURG (BLK) – Im Februar 2009 ist bei Hoffmann und Campe der Roman „Eden“ von Sibylle Knauss erschienen.
Klappentext: Am Anfang steht eine leidenschaftliche Liebe, als Mary und Louis Leakey aufbrechen, um in Ostafrika nach den Spuren unserer Vorfahren zu suchen. Am Ende stehen spektakuläre Entdeckungen, die den Blick in eine ferne Vergangenheit erlauben, in der das Dasein ein Kampf ums nackte Überleben war. „Es war das Ende von allem. Die Erde war grau. Der Geruch von Asche lag in der Luft. Ein furchtbarer Geruch. Ein Geruch, der sagt: Lauf! Lauf! Lauf!“ Die Wesen, die vor diesem Vulkanausbruch fliehen, lebten vor Millionen von Jahren auf dem afrikanischen Kontinent. Etliche Zeitalter später findet Mary Leakey die Fußspuren dieser Urmenschen in der versteinerten Lava. Der Triumph über diesen Fund kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Leidenschaft zwischen ihr und Louis erkaltet ist.
Sibylle Knauss ist Autorin zahlreicher Romane, darunter der Bestseller Evas Cousine, den die New York Times im Jahr 2002 unter die Books of the Year wählte. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit arbeitete sie als Professorin an der Filmakademie Baden-Württemberg im Bereich Drehbuch. Sibylle Knauss lebt in der Nähe von Stuttgart.
Leseprobe:
©Hoffmann und Campe©
Es war das Ende von allem. Die Erde war grau. Der Geruch von Asche lag in der Luft. Ein furchtbarer Geruch. Ein Geruch, der sagt: Lauf! Lauf! Lauf!
Das Graue kam aus der Luft. Es fiel in Flocken nieder. Die Flocken waren überall. Sie drangen beim Atmen in Mund und Nase ein. Sie schmeckten wie etwas Totes.
Sie hielten sich auf ihrer Flucht dicht beieinander. Die meisten anderen kamen schneller voran als sie. Huftiere. Katzen. Schakale. Alles, was sich auf vier Beinen bewegte. Sie gingen aufrecht. Sie waren nur so schnell, wie man auf zwei Beinen ist.
Sie husteten. Sie keuchten. Ihre Füße sanken beim Laufen in das Graue ein. Das Graue war warm, und warm war auch die Luft, die sie einsogen. Sie schmerzte. Sie dörrte die Kehle aus. Sie reichte nicht aus für die Laufenden. Etwas lag hart wie ein Stein in ihrer Brust, pochte in ihren Köpfen. Sie liefen trotzdem weiter. Weg von dem Berg.
Der Berg hustete auch. Der Berg brannte. Entsetz licher Berg. Das Feuer kam aus dem Innern des Berges. Er kreischte. Er schrie. Kein Tier schrie so wie der Berg.
Der Berg sollte still sein. Berge sind immer still. Nie hatten sie einen Berg so schreien hören. Er grollte manchmal. Sie kannten das. Manchmal stieg auch Rauch von seinem Gipfel auf. Sie hatten sich jedes Mal sehr gefürchtet. Sie hatten nicht gewusst, was der Berg sagen will. Jetzt wussten sie es. Lauf!, wollte der Berg sagen. Lauf! Lauf! Lauf! Er schrie es.
Der Mann versuchte den Blick zu heben, um zu erkennen, wie weit es noch bis zu den Felsen war. Dort gab es Höhlen. Überhänge, die Schutz boten. Aber das Grau war undurchdringlich. Es reizte seine Augen. Er wischte sich mit dem Handrücken darüber und kniff sie so weit zu, wie es möglich war. Manchmal zogen rasche Schatten an ihnen vorüber. Der Mann begriff, dass auch andere Tiere auf ihrem Weg zu den Felsen waren. Der Mann fürchtete sie jetzt nicht. Dies war nicht die Zeit, um zu fressen und gefressen zu werden. Es war Zeit für die Flucht.
Eine Stute mit ihrem Fohlen kreuzte ihren Weg. Sie tauchten aus dem Grau auf und verschwanden wieder darin. Der Belag auf dem Boden schluckte das Geräusch ihrer Hufe. Aber der Mann erkannte die dreizehigen Spuren vor sich. Er überlegte, ob es klug sei, ihnen zu folgen, entschied sich aber dafür, die einmal eingeschlagene Richtung beizubehalten. Nur nicht zurück zu dem Berg statt weg von ihm.
Die größte Gefahr war jetzt, sich zu verlieren. Die Frau folgte ihm mit dem Kind an der Hand. Sie war nicht viel mehr als halb so groß wie der Mann. Mit ihren kürzeren Beinen hatte sie Not, mit ihm Schritt zu halten und das Kind dabei nicht zurückzulassen.
Das Kind war außer sich vor Protest. Es war noch nicht alt genug, um nicht die Erwachsenen für das, was hier geschah, verantwortlich zu machen, aber bereits zu alt, um von ihnen getragen zu werden. Im Grunde lief es nur mit, um sich zu beklagen, kam aber vor lauter Anstrengung nicht dazu. Es schluchzte, keuchte, hustete, fand keine Kraft, sich zu widersetzen. So lief es einfach mit.
Der Griff, mit dem die Frau seine kleine Hand umfasst hielt, war fest und hart. Es war die Härte, mit der man etwas hält, was man um keinen Preis lassen will. Würde sie, um sich zu retten, das Kind in der grauen kreischenden Öde zurück lassen?
Es gab keine Fragen und keine Antworten. Es gab nur den Griff, mit dem sie das Kind festhielt.
Und die Angst, dass ihr der Mann davonlief.
Sie rief ihn an.
Der Mann blieb stehen. Er sah sich über die Schulter nach ihr um und wartete, dass sie zu ihm aufschloss. Er hatte die Angst in ihrer Stimme gehört. Ihre Bitte, auf sie zu warten.
Der Mann war nicht gleichgültig gegen ihre Angst. Ihre Bitte traf auf seine Bereitschaft, der Linderer ihrer Angst zu sein.
Ihr Retter vielleicht sogar.
Ihr Retter zu sein war dem Mann angenehm. Es stimmte überein mit dem, was er fühlte, wenn sie um ihn war, selbst jetzt noch, da sie die Beute des kreischenden Berges geworden waren. Von den beiden Möglichkeiten, sich selbst oder sich und sie zu retten, ergriff er die zweite.
Die Frau verstand, was der Mann ihr anbot, und als er sich wieder zum Gehen gewandt hatte, setzte sie ihre Füße sorgfältig in seine Abdrücke. Ihre kleineren Fußabdrücke verschwanden darin wie die Hand des Kindes in ihrer eigenen.
Das beruhigte die Frau. Es zwang sie, sich zu konzentrieren. Es hinderte sie daran, ihrem Impuls zu unkontrollierter Flucht zu gehorchen, der im Zustand großer Angst übermächtig werden kann. Der Mann erlaubte ihr, sich auf ihn zu verlassen. Sie fürchtete ihn. Doch in Zeiten großer Gefahr bot seine Gegenwart ihr Trost und Sicherheit.
Sie streckte die Hand nach ihm aus und berührte den Mann an der Hüfte. Sein Fell war widerborstig und stumpf. Es war von Asche bedeckt, wie es auch das ihre und das des Kindes war. Sie sahen fremd aus. Wie ihre eigenen Schatten. Alles war Schatten und kein Licht nirgendwo, außer dem fahlen Schein des kreischenden Berges. Der Mann ließ sie gewähren. Die Gefahr hatte ihn freundlich gemacht. Auch er besiegte den Drang zu wilder Flucht und ging jetzt langsamer, sodass die Frau und das Kind ihm folgen konnten. Er führte sie.
Er hatte es oft schon getan. Seine Stärke gefiel sich in der Gegenwart ihrer Schwäche, sie war die Antwort darauf, wie auch ihre Schwäche die Antwort auf seine Stärke war. Auf diese Weise sprachen sie miteinander. Und so gewann auch er Trost durch sie.
Der Mann fürchtete sich nicht weniger als die Frau und das Kind. Er war ein Läufer. Ein Kundschafter. Ein Erspäher von Gefahr und Nahrung. Ein schneller Zugreifer. Einer, der die Hyänen mit Knüppeln und Steinen auf Distanz hält, bis er ein Stück ihrer Beute an sich gerissen hat. Er weiß die Jäger mit List abzulenken. Er riskiert etwas. Er reißt Äste ab und droht ihnen mit Armen, die länger als seine eigenen sind. Er schlägt damit zu. Er träumt von einem Knüppel, der stark wie ein Baum ist und mit dem er das Rückgrat eines Löwen zertrümmern kann. Im Traum sieht er den Löwen, wie er sich vor seine Füße zum Sterben legt. Er ist ein Kletterer. Er ist im Nu auf den Bäumen, wenn ihm die Jäger zu nah kommen.
Der Mann war sehr mutig. Er musste es sein, weil er wusste, welcher Art das Ende war, das ihn erwartete. Scharfe Zähne würden sich in sein Fleisch senken. Durstige Rachen würden sein Blut trinken. Gierige Jäger würden seine Knochen aus den Gelenken reißen und sich flink mit ihrer Beute davonmachen, um sie an einem sicheren Platz zu benagen. Nach kurzer Zeit würden von ihm nicht mehr als ein paar verstreute weiße Knochen übrig sein.
Der Mann hatte seinesgleichen schon oft auf diese Art sterben sehen. Er hatte das Schreien gehört, das Gurgeln, mit dem es verstummt war, das letzte Zucken der Glieder gesehen, bevor sie vom Rumpf getrennt wurden. Er hatte gewusst, dass es auch ihm widerfahren würde, wenn er alt oder krank oder unvorsichtig sein würde. Er wusste, dass ihn die Jäger im Blick hatten wie er sie. Sie umkreisten ihn und die Seinen. Sie waren immer da, mehr oder weniger nah, bei Tag und vor allem bei Nacht. Man musste hoch in die Bäume gehen, um zu schlafen, dort, wo man das Zittern im Stamm spürte, wenn ein Jäger sich näherte. Sie schlichen auf leisen Sohlen. Die Erde verriet sie nicht.
Sie lebten davon, sich zu belauern, die Jäger und er. Keine Unachtsamkeit. Niemals.
Er war nicht furchtlos: Ein furchtloser Mann war ein toter Mann. Er war wachsam. Er war mutig. Aber der Berg ist ein Gegner, mit dem es niemand aufnehmen kann. Der Berg ist fürchterlich.
Sie hatten die Zeichen gesehen. Den Rauch. Die schwarzen Wolken, aus denen kein Regen kam. Den unruhigen Schein über dem Gipfel bei Nacht. Sie hatten das Grollen aus dem Berg gehört. Der Berg war wie eine Katze gewesen. Eine Katze, die zuerst knurrt und dann faucht und dann zum Sprung ansetzt und zubeißt.
Sie wussten jetzt, dass der Berg eine Katze war. Ein Riesentier. Aber die Zeichen hatten sie nicht erkannt.
©Hoffmann und Campe©
Literaturangabe:
KNAUSS, SIBYLLE: Eden. Hoffmann und Campe, 2009. 384 S., 22 €.
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