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Ein Archäologe der Gegenwart

Andrzej Stasiuks „Die Mauern von Hebron“ und „Galizische Geschichten“ / Rezension

© Die Berliner Literaturkritik, 19.09.10

Von Roland H. Wiegenstein

Der 1960 geborene Andrzej Stasiuk gehört mittlerweile zu den angesehensten polnischen Autoren der jüngeren Generation. Grund genug, auch seine frühen Werke ins Deutsche zu übersetzen. Als er 1992 mit „Die Mauern von Hebron“ debütierte, erregte dieser wüste Bericht aus dem Gefängnis, von dem Stasiuk behauptet, ihn in nur zwei Wochen geschrieben zu haben, Skandal: So genau wollte man es eigentlich nicht wissen.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 05.06.2003 in unserem Magazin und ist eine Wiederveröffentlichung aus unserem Archiv.

Eingezwängt zwischen zwei kurze Prosastücke, die den Schrecken der Einzelhaft in die höchstmögliche Abstraktion treiben, der eine in der ersten, der zweite in der dritten Person geschrieben, gleich als hätte Beckett dabei Pate gestanden, setzt der Autor Bilder aus dem Gefängnisleben, die Olaf Kühl in den passenden Knastjargon übersetzt hat.

„Die Welt war leer. Entleert. Es gab keine Punkte, keine Gegenstände. Es gab weder Bäume noch Menschen, nur den Schmerz in den Füßen. Was trug ich? Ich trug meine Nase, meine Augen, meine Hände. Alles war unnötig. Nichts war brauchbar.“ So räsoniert der Häftling ohne Namen, der von sich sagt, er wisse nicht, warum sie ihn eingesperrt haben.

Das sagen die schrägen Typen, die Stasiuk im Mittelteil des Buchs beschreibt, nicht mehr: Sie wissen, warum sie dort sind, in der Hölle eines Strafvollzugs, in dem nur überlebt, wer stark ist, gemein und in der Lage sich so etwas wie die Solidarität jener Einbrecher, Diebe, Mörder zu sichern, die ebenso stark sind wie er. Der „kaspern“ kann, wie die Chiffre für die heißt, die sich auskennen, die Gewalt auszuüben verstehen.

Man kennt solche Berichte aus russischen Büchern und denen von Jean Genet, Stasiuk kennt die sichtlich auch. Denn all die Grässlichkeiten, von denen er erzählt - Folterungen, Vergewaltigungen, Unterdrückung - zeugen immer wieder vom professionellen Stolz dieser Verbrecher, der festen Absicht, sich nie unterkriegen zu lassen, wenigstens den Anschein von Überlebenswillen zu erwecken und sich mit den Taten und Untaten zu trösten, die man draußen beging.

Auch wenn dies Buch eine scharfe Kritik an polnischen Gefängnissen ist, geschrieben wurde es offenbar nicht als anklagende Reportage, sondern in einem rauschhaften Willen zum literarischen Ausdruck, als Grenzerfahrung, die fragt, wie weit man gehen kann.

Dieser Wille zur Literatur wird vollends in Stasiuks 1995 erschienenem Band „Galizische Geschichten“ deutlich, einem Buch mit lauter kurzen, oft mit dem Namen der jeweiligen Hauptfigur überschriebenen Geschichten, die alle von den Bewohnern eines gottverlassenen Dorfs im äußersten Südosten Polens handeln, einem Teil Galiziens, aus dem die Russen nach der Teilung des Landes zwischen ihnen und den Deutschen (1939-1944) einen großen Teil der Bewohner bis nach Sibirien und Kasachstan vertrieben.

Nach dem Krieg hat man dort Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften anstelle der sonst in Polen weithin erhalten geblieben Kleinbauernhöfe eingesetzt. Die LPGs sind zu Beginn der neunziger Jahre zugrunde gegangen, die übrig gebliebenen Bewohner, Rückkehrer aus Russland, Alte, Frauen und Kinder, leben von der Hand in den Mund. Arbeit gibt es allenfalls vom Spätherbst bis zum Frühjahr für die Kräftigsten: Sie hausen als Holzfäller in improvisierten Lagern, arbeiten zwölf Stunden und mehr für einen Hungerlohn, den sie am Wochenende versaufen.

Zweimal passiert in diesem Geschichten ein Mord, der eine der beiden Mörder geistert nach seinem Tod (er wurde gefasst, verurteilt, kam auf einem Freigang um) so lange durchs Dorf und erscheint den Bewohnern, bis der Kommandant der Milizstation (der hier „Feldwebel“ heißt) dem Unruhegeist eine Totenmesse spendiert.

Raum für Poesie

Doch der Ton dieser Medaillons aus einem hoffnungslosen, kargen, trotzigen Leben ist liebevoll, Stasiuk schreibt einen Stil, der für Poesie Raum lässt, ja für Schönheit.

Die von der Gesellschaft, vom Staat, von jenem Polen, das von Warschau aus regiert wird und sich als Mitglied der Europäischen Union sieht, im Stich gelassenen Armen haben ihre eigene Würde, die nicht einmal der Wodka vollends vernichten kann. Sie wissen noch etwas von den Jahreszeiten, von Geburt und Tod, sie haben ihre eigenen Vorstellungen von Anstand und Hilfsbereitschaft, ihre Moral ist zwar nicht mit der des Strafgesetzbuchs kompatibel, wohl aber mit einer Form des Zusammenlebens, das so viele Jahrhunderte lang funktioniert haben muss. Daran hat auch der eine oder andere Fernsehapparat nichts geändert.

„Der Strom der Zeit schlich sich zwischen die Häuser, rollte über den Marktplatz, passierte zwei Bänke, umspielte die Ruine des Rathauses, das er im Laufe von zweihundert Jahren unterhöhlt, mit Fäulnis infiziert, vom Putz befreit hatte und das er letztendlich wegtragen würde, wie das Hochwasser Dinge wegträgt, leichte Dinge, unnötig und vergessen. Auch vom Himmel floss die Zeit, floss wie träger Honig, spritzte gegen die Metallschuppen des Pflasters, doch weder ihre Strömung, noch einer ihrer Tropfen waren im Stande, irgend ein größeres Ereignis nach sich zu ziehen.“

Aufbewahren, was es einmal gab

Was Stasiuk antreibt, ist die Archäologie einer Gegenwart, die binnen kurzem nicht mehr existieren wird: Er will aufbewahren, was es einmal gab, erinnern an eine wie immer reduzierte humane Möglichkeit, die es nicht verdient, einfach abgeschrieben zu werden.

Der elegische Ton dieser Geschichten, der manchmal an Joseph Roths galizische Reportagen denken lässt und zugleich den Abstand sichtbar macht zwischen der Chronik einer untergegangenen k.u.k.-Monarchie und dem schwierigen Weg zurückgebliebener Gebiete im postsozialistischen Polen, lässt für Stasiuks Figuren keine andere Hoffnung als das Warten auf den Tod. Wer in Dukla zu leben gezwungen ist, hat keine Chance, er schlägt sich bis dahin durch, mit hartnäckiger Kraft und viel Alkohol.

Der in den Aggregatzustand einer kargen, unsentimentalen Poesie versetzte Rapport aus einer Landschaft, in der die Moderne nie angekommen ist, erzählt so auch von den Kosten dieser Moderne, davon, dass sie nicht aufzuhalten ist und dass es schade um die ist, die dabei draufgehen.

Ihnen setzt der Autor ein Denkmal aus Worten, das man so rasch nicht vergisst.

Literaturangaben:
STASIUK, ANDRZEJ: Die Mauern von Hebron. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 159 S., €9. STASIUK, ANDRZEJ: Galizische Geschichten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 131 S., €19,90.

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