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Ausflug ins Bodenlose

„Landesbühne“ - eine Novelle von Siegfried Lenz

© Die Berliner Literaturkritik, 12.11.09

Von Roland H. Wiegenstein

„Ein merkwürdiges Gefühl überkam mich, ich glaubte, dass ich dem Ort nicht mehr so wehrlos ausgeliefert war, dem Ort nicht und nicht der Zeit.“ Der Ort: eine Gefängniszelle in der Haftanstalt Isenbüttel. Die Zeit: unsere Gegenwart. Das erzählende Ich: ein Germanistikprofessor, der einsitzen muss, weil er hübschen Studentinnen zum Abschlussexamen verholfen und diese „vorher bei ihm genächtigt“ hatten.

Der Mann heißt Clemens und hat Hannes, einen Trickbetrüger, als Zellengenossen. Die beiden kommen miteinander aus. Hannes führt Clemens in die Welt der Knackis ein, die ihm, der bislang über „Sturm und Drang“ doziert hat, allenfalls vom Hörensagen bekannt war. Dann passiert es: Die „Landesbühne“ (so der Titel von Siegfried Lenz’ neuer Erzählung) gastiert – vom fortschrittlichen Direktor Tauber eingeladen – und will vor den Häftlingen ein Stück namens „Labyrinth“ aufführen. In der Zigarettenpause auf dem Hof benutzen einige Knackis, darunter auch Hannes, der das organisiert hat, und Clemens, den Thespis-Lastwagen der Truppe zur Flucht und kommen bis nach Grünau, einem verschlafenen Städtchen irgendwo im Norden, wo man gerade das „Nelkenfest“ feiert und die falschen Schauspieler begeistert aufnimmt. Die revanchieren sich mit Chorliedern und feiern heftig mit – bis sie wieder eingesammelt werden.

Auch Becketts „Warten auf Godot“ spielt in Lenz’ Erzählung eine wichtige Rolle. Und wie so oft hat Lenz einen der bei ihm beliebten versteckten Hinweise angebracht: Er macht ganz beiläufig deutlich, wie sehr zumindest Hannes, der beim Abräumen das unbelaubte Bäumchen der Truppe klaute und in die Zelle brachte, die Essenz des Stückes kapiert hat, reden doch neue Studien davon, dass Beckett keineswegs das metaphysische Warten gemeint haben kann, sondern, sehr viel konkreter, das Warten von zwei Widerstandskämpfern während der „Résistance“ auf eine Kurierbotschaft. Lenz kennt sich aus.

Am Ende ist diese Geschichte, die so behutsam und humorig daherkommt, und die man auch so lesen kann: als die Schilderung eines komischen, fantastischen Ereignisses, das einem erfahrenen alten Erzähler eingefallen ist, weil man die „Wahrheit nur erfinden kann“, auch die Geschichte einer Freundschaft, ja Liebe, die die Haft überdauern wird.

Der Autor ist auf der Höhe seiner erzählerischen Fähigkeiten, seine sanfte Ironie, die Behaglichkeit seiner Prosa sind literarische Täuschung, er hat eine bodenlose Geschichte erzählt, über die man lange nachdenken kann, deren Bezüge zur Wirklichkeit unserer Tage man erst entdecken muss – aber man kann sie auch einfach als einen Text nehmen, den man konsumiert, erheitert und gut unterhalten. Lenz ist ein diskreter Autor, der dem Leser manche Freiheit lässt.

Literaturangabe:

LENZ, SIEGFRIED: Landesbühne. Hoffmann und Campe, Hamburg 2009. 128 S., 17 €.

Weblink:

Hoffmann und Campe Verlag

 

 

 


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