HAMBURG (BLK) – Der Roman „Rubinrotes Herz, eisblaue See“ von Morgan Callan Rogers ist im mareverlag im Juli 2010 erschienen. Claudia Feldmann hat das Buch aus dem Amerikanischen übersetzt.
Klappentext: Ein Fischerdorf an der Küste Maines, am nordöstlichsten Zipfel der USA. Dicht an dicht schmiegen die Häuser sich an die Granitfelsen. Florine lebt geborgen bei ihren Eltern und ihrer Großmutter inmitten der Gemeinschaft der Familien, die hier seit Generationen auf Hummerfang gehen. Die kleinen Reibereien zwischen ihrer lebenshungrigen Mutter Carlie und dem bodenständigen Vater können das Leben der Elfjährigen nicht ernsthaft erschüttern. Bis Carlie eines Tages spurlos verschwindet. Alle Nachforschungen scheinen ins Leere zu laufen. Die Frage, ob ihre Mutter Opfer eines Verbrechens wurde oder freiwillig ging, wird Florine in den folgenden Jahren ständig begleiten. Und sie muss mit der Zumutung fertig werden, dass das Leben um sie herum trotzdem weitergeht: Ihr Vater bandelt wieder mit seiner Jugendliebe an, ihre Großmutter altert zusehends, und ihr bester Freund hat nur noch Augen für seine neue Freundin. Doch Florine lässt sich nicht beirren und gibt das Warten auf die Rückkehr der Mutter nicht auf. Schlagfertig und mit einem ganz eigenen Humor erzählt sie davon, was es heißt, sich treu zu bleiben und sein Glück zu finden.
Morgan Callan Rogers wurde 1952 im US-Bundesstaat Maine geboren, wo sie auch aufwuchs. Sie studierte Anglistik und veröffentlichte mehrere Essays und Erzählungen. „Rubinrotes Herz, eisblaue See“ ist ihr erster Roman. Heute lebt sie in der Hafenstadt Portland.
Leseprobe:
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Am Neujahrstag wurden Dottie und ich gegen neun Uhr wach. Wir standen auf und schoben die Bierflaschen beiseite, damit wir uns und Evie Frühstück machen konnten. Evies schwarze Locken tanzten im trüben Winterlicht, während sie ihre Cornflakes aß. In ihrem kleinen, herzförmigen Gesicht leuchteten rosige Wangen und tiefrote Lippen. Aus ihr würde mal eine Schönheit werden, was man von Dottie und mir nicht behaupten konnte. Ich mit meinem langweiligen Durchschnittsgesicht und Dottie mit ihrer Bretterbudenfigur. Was würde aus uns werden?, fragte ich mich plötzlich.
„Wie wär’s mit einem Zeichentrickfi lm?“, fragte Dottie.
„Nein“, sagte ich. „Heute ist Rotes-Glas-Tag.“
Jedes Jahr am ersten Januar putzten Grand und ich das rubinrote Glasgeschirr, und sie erzählte mir dabei die Geschichte ihrer Mutter Emma, die als Waisenkind in Boston aufgewachsen war und für ein paar Penny auf der Straße getanzt hatte. Irgendwie war sie von dort zu Verwandten nach Spruce Point verschifft worden. Sie heiratete Harold Morse, der fünfundzwanzig Jahre älter war als sie. Er zog mit ihr nach The Point, und Emma bekam vier Kinder, wovon drei bei einer Grippeepidemie starben. Grand kam erst nach der Epidemie zur Welt. Als sie sechs war, starb ihr Vater im Alter von sechzig Jahren an seinem Geiz.
Harold ließ Emma mittellos zurück, und so beschloss sie, das Haus zu verkaufen, in die Stadt zu ziehen und sich Arbeit als Haushälterin zu suchen. Doch eines Tages, als Grand unter dem Bett ihrer Eltern Verstecken spielte, bemerkte sie ein Stück grünes Papier, das aus einem kleinen Riss an der Unterseite der Matratze hervorschaute. Sie zog eine ganze Handvoll davon heraus und zeigte es ihrer Mutter, weil sie es hübsch fand.
Wie sich herausstellte, hatte Harold die Matratze mit Zehnern, Zwanzigern und auch etlichen Fünfzigdollarscheinen gefüllt, die Emma sofort zu einer Bank in Long Reach brachte. Harold war Fischer gewesen, und nur der Teufel wusste, woher er das viele Geld hatte, sagte Grand, aber das war nicht wichtig. Es hatte ausgereicht, um Emma und Grand ein komfortables Leben zu ermöglichen, bis Grand zwölf Jahre später Franklin Gilham heiratete. Emma hatte bis zu ihrem Tod bei ihnen gelebt.
Grand hatte die Sparsamkeit ihres Vaters geerbt und sich ebenfalls ein kleines Polster geschaffen, um sicher zu sein, dass sie bis ins hohe Alter über die Runden kam. Sie brauchte nicht mehr als das, was sie besaß. Sie hatte ihre Lieblingsdinge um sich, und sie hatte ihren Garten. Ich freute mich schon wieder auf den Sommer, wenn ich meine Nase in ihre Pfingstrosen stecken konnte, um den Duft bis in mein Herz zu saugen. Genau daran dachte ich auf dem Weg von Dottie zu Grand, als ich plötzlich Stella mit ihrem Schmortopf unsere verschneite Einfahrt runterkommen sah.
Als sie mich erblickte, wurde ihr Gesicht so rot wie die Pfingstrose, die ich mir gerade vorgestellt hatte. „Frohes neues Jahr, Florine“, sagte sie. „Hast du dich bei Dottie gut amüsiert“
Ich konterte sofort. „Und du, hast du dich bei Daddy gut amüsiert?“
Sie drückte den Topf mit der einen Hand gegen ihren grünen Wollmantel, während sie mit der anderen den Kragen gegen den kalten Januarwind hochschlug. „Es war ein sehr schöner Abend“, sagte sie und sah mir dabei direkt in die Augen.
„Bist du über Nacht geblieben?“
Sie holte tief Luft und stieß eine frostige Atemwolke aus.
„Ja, bin ich.“
„Daddy ist ein verheirateter Mann“, sagte ich mit vor Empörung bebender Stimme.
„Aber er ist auch ein einsamer Mann, Florine. Nur weil er mal eine Nacht nicht allein sein wollte, heißt das noch lange nicht, dass er deine Mutter nicht liebt“, sagte Stella. „Willst du, dass er einsam ist?“
„Lieber einsam als mit dir.“
Stellas Narbe verfärbte sich dunkelrot. „Ich möchte, dass wir Freunde sind.“
„Warum? Das wolltest du doch früher nicht.“
Mit ihrer Stiefelspitze hob sie ein wenig Schnee auf und schüttelte ihn dann wieder ab. „Frohes neues Jahr, Florine“, sagte sie noch einmal. „Bis bald.“ Damit wandte sie sich um und ging die Straße hinunter. Sie wackelte mit dem Hintern wie eine Katze, die von der Sahne genascht hat. Und nicht nur davon.
„Und kochen kannst du auch nicht“, brüllte ich, obwohl wir beide wussten, dass das nicht stimmte. Wütend stapfte ich in Grands Haus und knallte die Tür hinter mir zu.
Grand trug gerade die rote Glaskaraffe von der Vitrine in die Küche. „Meine Güte, Florine, musst du denn so einen Krach machen?“
„Stella hat die Nacht bei Daddy verbracht“, rief ich.
„Immer mit der Ruhe. Setz dich, und ich stelle erst mal die Karaffe weg, bevor sie noch kaputtgeht.“
Stocksteif setzte ich mich aufs Sofa. Meine Knie zitterten vor Erregung. Wie konnte sie nur? Wie konnte er nur? Daddy hatte Carlie und mich wegen einer mageren, narbengesichtigen Schlampe verlassen. Am liebsten hätte ich sie alle beide umgebracht.
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Literaturangabe:
ROGERS, MORGAN CALLAN: Rubinrotes Herz, eisblaue See. Aus dem Amerikanischen von Claudia Feldmann. mareverlag, Hamburg 2010. 432 S., 19,90 €.
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