Werbung

Werbung

Werbung

Ein großer Roman der Exilliteratur

Hans Sahls Roman „Die Wenigen und die Vielen“ in neuer Auflage

© Die Berliner Literaturkritik, 02.06.10

Von Claudine Borries

Mit einer elegisch-melancholischen Betrachtung über sein Leben, wie es hätte sein können, wenn alles anders gekommen wäre, beginnt Hans Sahl seinen Roman über einen Schriftsteller, der mit Mühe dem Dritten Reich entkommen konnte und in Amerika ein Exilleben begann. Dass er kein Held sei und keine Ratten mag, steht am Beginn seiner Überlegungen.

Georg Kobbe heißt der Held der Geschichte, die zurück führt in das 20. Jahrhundert in Europa, als nach und nach zuerst die bürgerliche Ordnung und zuletzt der ganze Kontinent in Stücke zerfiel.

Wie gut lebte es sich in einer wohl situierten Familie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland! Zwar hatte das Ende des Ersten Weltkriegs gesellschaftlichen Zerfall, Hunger und Not gebracht, und die Monarchie hinweg gefegt, noch jedoch zeigten sich die Gefahren der kommenden bösen Zeit erst fern am Horizont. Juden waren fest integriert in ihren Wirtschaftsunternehmen oder wissenschaftlichen Berufen. Einen Hauch des großbürgerlichen Wohlstands und der Lebensart spürt man in den Erinnerungen Georg Kobbes, dessen Schwester Katharina einen reichen jüdischen Unternehmer mit Kriegsauszeichnungen geheiratet hatte. Im Elternhaus der Geschwister wusste man gut zu leben; dazu gehörten die spätabendlichen Musikdarbietungen der Mutter am Klavier und die Zigarre des Vaters am Feierabend.

Die ersten unheimlichen Anzeichen des Dritten Reichs zum Ende der zwanziger und Beginn der dreißiger Jahre lassen aufhorchen und steigern sich zur Bedrohung. Gefahrenmomente mit Ungewissheit und beständiger Angst werden zu Begleitern des täglichen Lebens.

Mitte des Zweiten Weltkriegs findet man Kobbe in Amerika, wo Schwester und Schwager wie er selbst mühsam ihr Leben fristen. Wer weiß schon, wie es sich fern der kulturellen Lebensbedingungen und Erfahrungsgeschichten in einem Land lebte, das so ganz andere Voraussetzungen bot als das alte Europa? Mit Armut und Broterwerb beschäftigt bleibt nur die Erinnerung, der man sich umso intensiver zuwendet, je schwieriger der Lebensalltag ist.

In assoziativen Impressionen beschreibt Kobbe den Aufbruch aus seinem Elternhaus, der durch den Zorn zwischen Vater und Sohn gekennzeichnet war. Großbürgerlicher Kaufmannshaushalt und die angestrebte Schriftstellerlaufbahn des Sohnes gingen nicht zusammen. Der Vater starb einige Jahre später krank und geistig verwirrt, und Hans Sahl beschreibt diese Erfahrung seines Helden mit sensiblen und von Trauer und Mitgefühl getragenen Einsichten. Die beginnende Wirtschaftskrise hatte schon zuvor das Familienleben verändert.

Mit Präzision und atmosphärischer Genauigkeit fängt Hans Sahl die Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg von 1914 -1918 ein. Genauso eindringlich sind die Beschreibungen der späteren Flucht noch zur rechten Zeit aus Deutschland. Ein Land, das zu dieser Zeit sein Heil und die nationale Erneuerung unter dem begeistert umjubelten Führer Hitler suchte; in dem aber auch tausende in die Flucht und in den Tod getrieben wurden.

Wie der Autor in diesem Roman in einer Art Abgesang auf das vergangene Jahrhundert mit seiner Totenklage den Untergang aller menschlichen Würde und Wahrhaftigkeit vereint, das zeigt ihn als einen Poeten, der mit visionärer Kraft zu erzählen weiß. Mit den Worten Brechts : „Unglücklich das Land, das keine Helden hat“ und der Ergänzung „Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“ aus Brechts „ Das Leben des Galilei“ möchte man hoffen, dass Zeiten wie die beschriebenen nie wiederkehren mögen.

Hans Sahl ist der Schriftsteller, den man in seinem Protagonisten unschwer wieder erkennt. Schon in seinen ersten Bänden „Memoiren eines Moralisten/ Das Exil im Exil“, ebenfalls bei Luchterhand erschienen, hat er seine Erinnerungen an die Zeit der Flucht und das Leben im Exil verarbeitet. In diesem 1959 zum ersten Mal erschienenen Roman „Die Wenigen und die Vielen“ widmet er sich erneut der „Vertreibung“ und dem „Leben in der Fremde“, das sein Leben zu einem Wandererleben machte.

Hans Sahl war in den zwanziger Jahren Literatur - und Kunstkritiker bis ihm nach einer Flucht kreuz und quer durch Europa die Emigration nach Amerika gelang. Er gilt als einer der gewichtigsten Zeugen für den Glanz und Niedergang einer Zeit, die mit den goldenen Zwanzigern begann und mit dem Ende des zweiten Weltkriegs seinen Schlussakt erlebte. Zuletzt lebte Hans Sahl in Tübingen, wo er 1993 starb.

Literaturangabe:

SAHL, HANS: Die Wenigen und die Vielen. Luchterhand Literaturverlag, München 2010. 368 S., 22,95 €.

Weblink:

Luchterhand Verlag


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: