Von Christoph Held
Ein junger Mann steht vor seinem Leben: entbehrungsvolle Liebe oder ruhmreiche Karriere? Ein ewiger Konflikt. Oft erzählt und oft gelesen, aber selten so traurig-schön wie bei Mori Ôgai. Seine berühmte Novelle „Das Ballettmädchen“ von 1890, aus der Gründerzeit der modernen japanischen Literatur, ist ein kleines Meisterstück über die Unbedingtheit erster Liebe und den Schmerz einer unmöglichen Entscheidung.
Das Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts entfesselt dem japanischen Studenten Toyotarô die bisher vom maschinenhaften Lernzwang unterdrückten Sinne. Im Rausch exotischer Großstadtreize entwickelt er ein neues, unabhängiges Ich, das sich der geistigen Bevormundung durch die Regierungsbürokratie seines Heimatlandes widersetzt. Als er sich in die ebenso hübsche wie arme Tänzerin Elis verliebt, kostet ihn die unstandesgemäße Beziehung neben seinem Stipendium auch den letzten Rest seiner ehemals tadellosen Reputation. Aber der Verlust bedeutet ihm größere Freiheit, der schwierige Schritt zur vollständigen Emanzipation wurde ihm abgenommen.
Doch bald bricht Toyotarôs Vergangenheit in das nicht ohne romantische Überhöhung ausgemalte Dachkammerglück des Paares: Die Vermittlung eines Freundes eröffnet ihm einen Rückweg in seine glanzvolle Beamtenlaufbahn. In seiner ängstlichen Passivität deutet sich die Katastrophe an, während die inzwischen schwangere Elis mit ihrer bedingungslosen Hingabe die nötige emotionale Fallhöhe erklettert. So kindlich-naiv, so bezaubernd und hoffnungsfroh ihre Liebe war, so todernst und herzzerreißend ist am Ende ihr apathischer Wahnsinn.
Ôgai, der selbst vier Jahre in Deutschland studiert hat, verarbeitet mit der Problematik aufgegebener Liebe kaum verhüllt autobiographische Erlebnisse. Mit der an deutscher Novellentradition geschulten Konstruktion und der hochstilisierten, zuweilen archaischen Sprache geht der Text aber weit über persönliche Trauerarbeit hinaus. Gerade im gelungenen Zusammenspiel zwischen leidenschaftlicher Intimität und streng kalkulierter Ästhetisierung offenbart sich sein großer reformatorischer Kunstanspruch.
Literaturangabe: ÔGAI, MORI: Das Ballettmädchen. Eine Berliner Novelle. Aus dem Japanischen von Jürgen Berndt. be.bra verlag, Berlin 2010. 120 S., 16,95 €.
Weblink: be.bra-Verlag