MÜNCHEN (BLK) – Die Erzählung „Prousts Mantel“ von Lorenza Foschini ist im Juli 2011 bei Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag erschienen. Annette Kopetzk hat sie aus dem Italienischen übersetzt.
Klappentext: Durch Zufall stößt die Journalistin Lorenza Foschini auf einen Parfümfabrikanten in Frankreich, der jahrzehntelang alles sammelte, was einmal Marcel Proust gehörte. In einer amüsanten Reportage erzählt die Autorin, wie Jacques Guérin wegen einer Blinddarmentzündung 1929 an den Arzt Robert Proust gerät, den Bruder von Marcel Proust. Von da an kennt Guérin nur noch ein Ziel: alles in seinen Besitz zu bringen, was je dem berühmten Schriftsteller gehörte. So rettet er wertvolle Manuskripte für die Literaturgeschichte, und auch die Toilettenartikel und den berühmten Mantel, in dem Proust zuweilen schlief, spürt er auf. Eine ungewöhnliche und faszinierende Erzählung über eine mitreißende Leidenschaft.
Lorenza Foschini wurde in Neapel geboren und arbeitet als Journalistin für das italienische Staatsfernsehen RAI. Als Vatikan-Korrespondentin begleitete sie Papst Johannes Paul II bei seinen Reisen um die Welt. Für ihr Buch „Inchiesta sui misteri di fine millennio“ (Nachforschungen zur Jahrtausendwende) erhielt sie 1997 den begehrten Scanno-Preis. Heute lebt sie in Rom.
Leseprobe:
©Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag©
iv
War die tägliche Arbeit in der Parfumerie beendet, kehrte Jacques meist in seinem blassgrünen offenen Buick Jahrgang 1929 nach Paris zurück. Sein erster obligatorischer Besuch galt der Parfum-d’Orsay-Filiale in der Rue de la Paix 17. Das Geschäft befand sich in einem Eckhaus. Kam man von der Oper, war es das erste Gebäude, das man erblickte. Die imposante, mit geädertem Marmor verkleidete Fassade war raffiniert gestaltet, die kleine Eingangstür kontrastierte mit den gewaltigen Schaufenstern, von denen zwei auf die Rue de la Paix und fünf auf die Rue Daunou gingen. Reinster Jugendstil waren die Verzierungen der Schaufenster: Bronzene Girlanden aus blühenden Zweigen, Früchten und Draperien krönten die in der Marmorverkleidung eingefassten Fenster. Auch im Inneren hatten die Architekten Suë und Mare ihren Inspirationen freien Lauf gelassen und die Einrichtung mit orientalischen Möbeln bereichert.
Nach dem Besuch des Geschäfts widmete Jacques sich seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Gang durch antiquarische Buchhandlungen, wo er mit seinem „Riecher“ für Raritäten nach neuen Funden stöberte. 1935 stieß er eines Tages bei seinem üblichen Bummel über die Rue du Faubourg Saint-Honoré auf eine Buchhandlung, die er noch nie bemerkt hatte. Was sich dort abspielte, hat er dem Freund Jansiti später genau geschildert, und dieser veröffentlichte Guérins Bericht vor zwanzig Jahren im Figaro Littéraire.
Jacques betrat den Laden und begann, die Regale zu mustern. Eifrig näherte sich der Besitzer und fragte:
„Kann ich Ihnen behilflich sein? Suchen Sie einen bestimmten Autor?“
„Nichts Bestimmtes, Baudelaire, Apollinaire, Proust …“
Der Buchhändler, der Lefebvre hieß, reagierte erstaunt:
„Was für ein merkwürdiger Zufall, erst vor wenigen Minuten habe ich Korrekturbögen mit handschriftlichen Eintragungen und Briefe von Marcel Proust erworben. Der Mann, der sie mir verkauft hat, ist soeben hinausgegangen. Er hat mir auch Prousts Bücherregale und seinen Schreibtisch angeboten, aber ich handle nicht mit Möbeln … jedenfalls wird er gleich zurückkommen, um seinen Scheck abzuholen. Warten Sie doch auf ihn, wenn Sie die Sache interessiert. Ich benötige ein paar Tage, um die Manuskripte zu prüfen und zu katalogisieren, dann verkaufe ich sie Ihnen gerne.“
Proust war Jacques’ Lieblingsautor, schon mit zwanzig hatte er ihn gelesen, und seit die Familie des Autors zufällig in sein Leben getreten war, war er von Proust besessen. Alles hatte im Sommer 1929 mit einer Blinddarmentzündung begonnen, die ihm heftige Schmerzen bereitete. Dr. Robert Proust, Marcels Bruder, der Chirurg war, wurde gerufen und entschloss sich zu einer Operation. Der Eingriff fand in einem Krankenhaus in der Rue Boileau statt. Ein paar Wochen später stattete Jacques seinem behandelnden Arzt, wie es damals üblich war, einen Besuch ab, um ihm zu danken und seine Rechnung zu bezahlen.
Er klingelte im Erdgeschoss des Hauses Nr.2 in der Avenue Hoche und wurde in eine große Wohnung geführt, deren überladene Einrichtung ganz dem bürgerlichen Stil jener Zeit entsprach. Die Möbel waren von zweifelhaftem Geschmack, aber luxuriös, wie es sich für einen renommierten Chirurgen gehörte. Seine Missbilligung verbergend, betrachtete Jacques die Cabriolet-Sessel mit der leicht konkaven Rückenlehne, die Gobelins mit bukolischen Szenen, die Gemälde an den Wänden, minderwertige Schinken für jemanden wie ihn, der bei sich zuhause Werke von Soutine und Courbet hängen hatte.
Unterstützen Sie unsere Redaktion, indem Sie Ihre Bücher in unserem Online-Buchladen kaufen! Vielen Dank!
Auch das Arbeitszimmer des Arztes war geprägt von der deprimierenden Düsternis jenes schweren Mobiliars, das im ausgehenden 19. Jahrhundert von bürgerlichem Wohlstand zeugte. Entsetzt blieb Jacques vor zwei besonders wuchtigen Möbeln stehen, einem gewaltigen schwarzen Schreibtisch und einem dunklen Bücherschrank mit Messingbeschlägen. Der Arzt bemerkte seinen Blick, missverstand ihn als Bewunderung und erklärte erfreut:
„Dieser Schreibtisch und dieser Bücherschrank gehörten Marcel, müssen Sie wissen, und davor unserem Vater, dem Professor Adrien Proust. Mein Bruder liebte diese Stücke sehr, und ich bewahre sie im Andenken an beide auf.“
Robert Proust wusste um die Bewunderung des jungen Mannes für seinen Bruder, darum öffnete er, um ihm einen Gefallen zu tun, eine der vier Glastüren des Bücherschranks und zeigte ihm die zahllosen Notizhefte, die ohne erkennbares Ordnungsprinzip aneinandergereiht auf den Regalen standen: das gesamte Werk von Marcel Proust, in langen, schlaflosen Nächten von Hand geschrieben. Jacques’ Augen hinter den dicken Brillengläsern weiteten sich vor Staunen, nervös rückte er sich das leichte, vergoldete Gestell auf der Nase zurecht. Der Arzt zog das letzte Heft heraus und reichte es ihm. Jacques schlug es auf und erblickte ein Gewirr aus Worten und Sätzen, Streichungen, Hinzufügungen, Glossen, an den Rand gekritzelten Bemerkungen und Verweisen, eine ganze Kathedrale aus Vokalen und Konsonanten, Majuskeln und Minuskeln, die er gierig überflog. Aller verfügbare Raum auf dem Papier war mit Prousts spitzer, unregelmäßiger, eiliger Handschrift beschrieben, bei der die Buchstaben nach unten zu kippen drohten, dicht zusammengedrängt einander überlagerten.
©Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag©
Literaturangabe:
FOSCHINI, LORENZA: Prousts Mantel. Die Geschichte einer Leidenschaft. Aus dem Italienischen übersetzt von Annette Kopetzki. Nagel & Kimche, München 2011. 128 S., 14,90 €.
Weblink: