Von Konrad Dittrich
Ins Irland des Jahres 1922 entführt Sebastian Barry die Leser seines spannenden neuen Romans „Ein verborgenes Leben“. Nach jahrelangen blutigen Auseinandersetzungen mit den Briten wird die Republik gegründet. Der Preis aber ist hoch: Sechs der 32 Provinzen müssen abgetreten werden. Nach den Kämpfen gegen die Engländer beginnt 1922 der Bürgerkrieg: Iren, die sich mit der Teilung arrangiert haben, gegen Iren, die wie die IRA die Abtretung der Nordprovinzen nicht hinnehmen wollen.
Solche Ankündigungen lassen einen hochpolitischen Roman erwarten. Den aber schrieb der Ire Sebastian Barry nicht. Die Zeitumstände dienen ihm lediglich als Hintergrund für ein packend erzähltes Frauenschicksal, das in Irlands Geschichte begründet ist.
Roseanne McNulty, eine fast Hundertjährige, seit Jahrzehnten in einer Anstalt für Geisteskranke weggeschlossen, findet einen Stapel leerer Blätter und beginnt, ihr Leben nachzuzeichnen. Da sie nicht will, dass man ihr die Erinnerungen stiehlt, versteckt sie die Blätter unter einer losen Diele ihres tristen Zimmers.
Das Heim, eine einsturzgefährdete Bruchbude, soll abgerissen werden. Der geplante Neubau fällt klein aus. Deshalb wird der Anstaltspsychiater damit beauftragt, die Patienten zu begutachten. Möglichst viele sollen ins Leben entlassen werden, um Kosten zu sparen. Damit beginnt eine Reihe von Besuchen und Gesprächen zwischen Roseanne und dem Psychiater Dr. Grene. Auch der rechtfertigt sein Leben durch private Aufzeichnungen. Mehr und mehr vertieft er sich in die Tragödie der alten Dame und spürt deren Aussagen nach. Ganz am Schluss macht er eine verblüffende Entdeckung.
Dieses unerwartete Ende ist vielleicht die Schwachstelle des Romans. Bis dahin hat der Leser bereits 380 Seiten lang am Leben der alten Frau Anteil genommen und sich für ihr Schicksal erwärmt. Die alte Dame, die von der Gesellschaft für verrückt erklärt worden war, schreibt in einer einfachen, aber wunderbar bildkräftigen Sprache. Der Leser verfolgt das Geschehen mit Anteilnahme.
Die junge Protestantin, die noch im Mädchenalter aufgrund der politischen Umstände den Vater verliert, bekommt in der katholischen Kleinstadt kein Bein auf die Erde. Ihre Ehe wird von der Kirche annulliert. Ein Kind wird ihr fortgenommen, ehe sie es überhaupt richtig gesehen hat. Vielleicht hat sie es sogar umgebracht? Gerüchte werden gezielt gestreut.
Sebastian Barry, 1955 in Dublin geboren, wurde für seinen jetzt in deutscher Übersetzung vorliegenden Roman in London mit einem Literaturpreis ausgezeichnet. Vor wenigen Wochen wurde das Buch in der Heimat des Autors zum besten irischen Roman des vergangenen Jahres gekürt.
Literaturangabe:
BARRY, SEBASTIAN: Ein verborgenes Leben. Steidl Verlag, Göttingen 2009. 392 S., 19,90 €.
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