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Ein märchenhafter Geschichtsroman

Das Romandebüt des Reisejournalisten Michael David Lukas

© Die Berliner Literaturkritik, 24.08.11

BERLIN (BLK) – Im Insel Verlag ist im August 2011 der Roman „Das Orakel von Stambul“ des amerikanischen Autors Michael David Lukas erschienen. Ulrike Wasel und Klaus Timmermann haben ihn ins Deutsche übersetzt.

Klappentext: Es ist der Spätsommer 1877. In Constanta am Schwarzen Meer schwebt ein Schwarm Wiedehopfe über dem Haus von Yakob Cohen und seiner Frau Leah. Er kündigt die Geburt eines besonderen Mädchens an, Eleonora. Noch ehe sie das achte Lebensjahr erreicht, lernt sie Lesen und kennt sieben Sprachen. Als ihr Vater geschäftlich nach Istanbul reisen muß, folgt ihm Eleonora als blinder Passagier. Am Bosporus entdeckt sie eine neue Welt der Farbenpracht und geheimnisvollen Eleganz. Doch selbst hier bleiben ihre außergewöhnlichen Gaben nicht lange unentdeckt. Bald schon erfährt auch der Palast des Sultans vom Wunderkind. Abdülhamid II. ist sofort von Eleonora verzaubert und macht sie zu seiner persönlichen Beraterin. Unversehens liegen Wohl und Wehe des Osmanischen Reiches in den Händen einer Achtjährigen.

Michael David Lukas wurde 1979 in Berkeley/Kalifornien geboren, lebte längere Zeit in der Türkei, Israel und Tunesien. Seine Erzählungen und Reisereportagen erscheinen in Slate, National Geographic und anderen Magazinen.

Leseprobe:

 ©Insel Verlag©

Kapitel Eins

Eleonora Cohen kam an einem Donnerstag im Spätsommer 1877 auf die Welt. Diejenigen, die an jenem Morgen früh aufgestanden waren, sollten sich später daran erinnern, dass sie einen Schwarm lila-weißer Wiedehopfe sahen, die über dem Hafen ihre Kreise zogen und hin und her sausten, als versuchten sie, einen Riss im Firmament zu flicken. Ob es ihnen gelang oder nicht, irgendwann verlangsamten die Vögel ihren Flug und ließen sich überall in der Stadt nieder, auf den Stufen des Gerichtsgebäudes, dem roten Ziegeldach des Constanţa-Hotels und dem Glockenturm der St.-Basilius-Akademie. Sie hockten im Laternenraum des Leuchtturms, auf dem achteckigen Steinminarett der Moschee und dem Vorderdeck eines Dampfers, der Rauchwolken in einen ansonsten klaren Horizont schnaufte. Wiedehopfe bedeckten die Stadt wie Zuckerguss, flöteten in den Regenrinnen des Gouverneurssitzes und verdreckten die goldene Kuppel der orthodoxen Kirche. In den Bäumen um das Haus von Yakob und Leah Cohen wirkten sie besonders lebhaft, zwitscherten, flatterten mit den Flügeln und hüpften von Ast zu Ast, wie eine Schar von Bauern, die bei einer kaiserlichen Parade die Straßen der Hauptstadt säumen. Die Wiedehopfe wären vermutlich als gutes Omen gedeutet worden, wären da nicht die bedauernswerten Ereignisse gewesen, die mit Eleonoras Geburt zusammenfielen.

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  In den frühen Morgenstunden jenes Tages kam die Dritte Division der Kavallerie Zar Alexanders II. aus dem Norden herangeritten und sammelte sich auf einem Hügel mit Blick über den Marktplatz der Stadt: 612 Männer, 537 Pferde, drei Kanonen, zwei Dutzend mattgraue Segeltuchzelte, eine Feldküche und die gelbschwarz gestreifte Standarte des Zaren. Sie saßen seit fast zwei Wochen im Sattel, waren bei gekürzten Rationen und wenig Rast durch Kilija, Tulcea und Babadag geritten, durch die Heidelbeersümpfe des Donaudeltas und weite Weizenfelder, die seit dem Winter brachlagen. Ihr eigentliches Ziel war Plewen, ein Handelsposten im Herzen der Donauebene, wo General Osman Pascha mit siebentausend osmanischen Soldaten erbitterten Widerstand leistete. Es würde eine wichtige Schlacht werden, vielleicht sogar der Wendepunkt des Krieges, doch Plewen lag noch zehn Tage weit entfernt, und die Männer der Dritten Division waren ruhelos.

  Constanţa, das sich vor ihnen ausbreitete wie ein Festmahl, hatte fast keine Befestigungen mehr. Kaum mehr als ein Dutzend Meter von der Hügelkuppe entfernt lagen die Trümmer einer alten römischen Mauer. In früheren Jahrhunderten hatten diese mattrosafarbenen Steine die Stadt vor Wildschweinen, Räubern und den thrakischen Barbaren geschützt, die regelmäßig versuchten, den Hafen zu überfallen. Zweimal war die Mauer von den Römern und noch ein weiteres Mal von den Byzantinern wiederaufgebaut worden, doch als die Osmanen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts nach Constanţa kamen, war sie dem Einsturz nahe. Also ließ man sie weiter verfallen, karrte die noch brauchbaren Steine weg, um damit Straßen, Paläste und neue Mauern um andere, strategisch wichtigere Städte zu bauen. Wäre jemand auf die Idee gekommen, die Mauer wiederherzustellen, hätte sie die Stadt vor der Brutalität der Dritten Division schützen können, doch in ihrem derzeitigen Zustand war sie kaum mehr als ein Stolperstein.

  Den ganzen Morgen und bis spät in den Nachmittag hinein ritten die Männer der Dritten Division marodierend durch die Straßen von Constanţa. Sie schlugen Schaufenster ein, quälten streunende Hunde und stürzten sämtliche Statuen um, auf die sie trafen. Sie steckten den Gouverneurssitz in Brand, verwüsteten das Gerichtsgebäude und zerschmetterten das Buntglas über dem Eingang der St.-Basilius-Akademie. Der Laden des Goldschmieds wurde geplündert, die Schusterwerkstatt leergeräumt und die Kurzwarenhandlung verwüstet. Sie zerschlugen das Schaufenster von Yakob Cohens Teppichgeschäft und stachen mit ihren Bajonetten Löcher in die Wand. Neben der orthodoxen Kirche, die unberührt blieb, als hätte Gott selbst sie beschirmt, war die Bibliothek das einzige städtische Gebäude, das die Dritte Division unbeschadet überstand. Der Grund dafür war nicht etwa ein besonderer Respekt vor Gelehrsamkeit. Dass Constanţas Bibliothek erhalten blieb, verdankte sie allein der Beherztheit ihres Leiters. Während die übrigen Bewohner der Stadt sich unter ihren Betten verkrochen oder sich in Kellern und Schränken duckten, stellte sich der wackere Bibliothekar auf die Stufen des ihm anbefohlenen Gebäudes und hielt eine lädierte Ausgabe von Eugen Onegin hoch wie einen Talisman. Die Männer der Dritten Division waren zwar fast allesamt des Lesens unkundig, erkannten aber das Schriftbild ihres heimischen Kyrillisch, was ihnen offenbar genügte, um die Bibliothek zu verschonen.

  Unterdessen lag Leah Cohen in einem kleinen grauen Steinhaus unweit der Kuppe des Osthügels in heftigen Wehen. Im Wohnzimmer roch es nach Zaubernuss, Alkohol und Schweiß. Die Wäschetruhe war aufgerissen worden, und auf dem Tisch lag ein Stapel jodbefleckter Laken. Da der einzige ausgebildete Arzt der Stadt anderweitig zu tun hatte, kümmerten sich zwei tatarische Hebammen aus einem Nachbardorf um Leah. Die Vorsehung hatte sie just in dem Augenblick, als sie am ärgsten gebraucht wurden, an die Tür der Cohens geführt. Sie hatten die Zeichen gedeutet, sagten sie: ein Meer von Pferden, eine Ansammlung von Vögeln, der Nordstern in Konjunktion mit dem Mond. Es war eine Prophezeiung, so sagten sie, die ihr letzter König auf dem Totenbett ausgesprochen hatte, doch es blieb keine Zeit für Erklärungen. Sie baten, ins Schlafzimmer geführt zu werden. Sie baten um saubere Tücher, Alkohol und heißes Wasser. Dann schlossen sie die Tür hinter sich. Etwa alle zwanzig Minuten kam die Jüngere der beiden mit einem leeren Topf oder einem Armvoll schmutziger Tücher herausgeeilt. Abgesehen von diesen kurzen Ausflügen blieb die Tür verschlossen.

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  Da er zum Nichtstun verurteilt war und sich auch durch nichts ablenken konnte, gab Leahs Gatte Yakob sich der Sorge hin. Er, ein kräftiger Mann mit widerspenstigem Haar und leuchtend blauen Augen, vertrieb sich die Zeit damit, an seinen Bartspitzen zu zupfen, seine Quittungen hin und her zu schieben und seine Pfeife zu stopfen. Dann und wann hörte er einen Schrei, gedämpfte Ermutigungen, jetzt zu pressen, oder den fernen Klang von Gewehrschüssen und Pferdehufen. Er war weder besonders fromm noch abergläubisch. Dennoch murmelte er das Gebet, das bei Geburten gesprochen wurde, jedenfalls soweit er sich daran erinnerte, und klopfte dreimal dreimal hintereinander auf Holz, um den bösen Blick abzuwehren. Er versuchte, so gut es ging, sich keine Sorgen zu machen, aber was blieb einem werdenden Vater sonst übrig?

©Insel Verlag©

Literaturangabe:

LUKAS, MICHAEL DAVID: Das Orakel von Stambul. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Insel Verlag, Berlin 2011. 365 S., 19,90 €.

Weblink:

Insel


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