Von Susanna Gilbert-Sättele
„Lichtjahre entfernt“ ist der beziehungsreiche Titel des Romans über einen beziehungsarmen und -unfähigen Mann. Das auf die Short List des Deutschen Buchpreises 2009 gesetzte Werk von Rainer Merkel handelt von dem Therapeuten Thomas, der für ein Wochenende nach New York fliegt, um dort seine langjährige Freundin Judith zu treffen, die in den USA an ihrer Promotion schreibt. Die Beziehung war in der Krise, das zur Wiederbelebung gedachte Weekend markiert wohl deren endgültiges Aus.
Das eigentliche Geschehen der Erzählung spielt sich ausschließlich in Thomas Kopf ab, in der Zeit, in der er von einer New Yorker Wohnung zum Flughafen aufbricht, um heim nach München zu fliegen. Der Leser folgt den mäandernden Gedanken, in denen er sich das Scheitern der Beziehung zu erklären versucht, seinen wilden Assoziationen und Erinnerungsfetzen an gemeinsame Erlebnisse mit der Freundin an wechselnden Orten nur mit Mühe. Menschen und Begegnungen tauchen auf, werden abgehandelt und schon von neuen Gedanken abgelöst.
Diese Aneinanderreihung weckt schnell das Gefühl, dass hier ein Mensch Lichtjahre von sich selbst entfernt ist. Seine Persönlichkeit scheint in der Hitze New Yorks zu zerfließen: Schweißtropfen, durchnässte T-Shirts, träge rotierende Ventilatoren sind immer wiederkehrende Bilder, mit denen Merkel die Auflösung seines Protagonisten untermalt.
Dieser Mann ist unsympathisch: Zwar scheint seine Verzweiflung über das Scheitern seiner Liebe echt zu sein, seine Erklärungsversuche aber halten den Leser immer mehr auf Distanz. Thomas seziert Menschen mit gnadenlos wissenschaftlichem Blick – und versteht sie nicht. Sein einziger Maßstab ist er selbst. Auch seine Liebe zu Judith ist narzisstisch gefärbt: „Ich liebe sie, wenn sie mich nachahmt.“ Unfähig zu wirklicher Nähe berührt er Judiths flauschigen Bademantel fast lieber als sie, aufregend an einem gemeinsamen Museumsbesuch findet er, dass er sie dabei nicht anfassen kann.
„Ich glaube, du kannst gar nicht lieben“, sagt Mads, sein schwuler Freund, einmal zu ihm. Kein Wunder also, dass er sich nicht als zugehörig empfindet. Staunend beobachtet er eine lachende, unbeschwerte Judith im Kreis ihrer Freundinnen, während er selbst auf der Straße steht und durch eine Fensterscheibe von außen auf die Szene sieht. Wobei er angewidert registriert, dass eine der Frauen mit ihren rot lackierten Fingernägeln in einer Sauce rührt. Es turnt ihn an, sich beim Sex zu filmen, selbstgefällig notiert er die ihm besonders treffend erscheinenden Gedanken: „Die Linien ihres Körpers sind die Wege zu der Schönheit von Gabriela und der Liebe zu Judith“, schreibt er sich auf, als könne man Liebe in Sätze gießen.
Seine Sicht auf Menschen, denen er sich eigentlich verbunden wähnt, ist verächtlich. Seinem Freund Mads unterstellt er, er nähme ihn nur auf eine Schiffstour mit, um ihn „vorzuführen“. Befremdet von ihrer offenen, spontanen Hilfsbereitschaft wirft er Judith vor, sich zu inszenieren und das Mädchen zu spielen. Noch gnadenloser urteilt er über ihre Kollegen, die er für feist hält, für Menschen von glasiger Teilnahmslosigkeit. Er hat bezahlten Sex und verachtet die Frauen, mit denen er schläft: „alles andere würde sie überfordern“, urteilt er etwa über eine von ihnen.
So wie er fast seinen Heimflug verpasst - aus Geiz, weil er sich kein Taxi leisten mag -, verpasst er die Gelegenheiten, Freunde oder die richtigen Worte zur rechten Zeit zu finden. „Ich verschiebe meine Liebeserklärung, in dem sicheren Gefühl, wir würden später Landschaften sehen, die alles bisherige übertreffen.“ Aber eine solche Gelegenheit kommt nicht mehr. Es bleibt das Bild eines lieblosen Protagonisten, eines akribischen Notizenmachers und zynischen Beobachters, der über seinen Selbstbespiegelungen das Leben verpasst, nicht nur mit Geld geizt, sondern vor allem mit echten Gefühlen anderen, vor allem aber sich selbst gegenüber.
Literaturangabe:
MERKEL, RAINER: Lichtjahre entfernt. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2009. 202 S., 18,95 €.
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