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Ein Morgen wie jeder andere

Ein einsamer Landtierarzt wird in ein grausames Verbrechen verwickelt

© Die Berliner Literaturkritik, 18.08.09

MÜNCHEN (BLK) – Im Juni ist bei dtv der Kriminalroman „Ein Morgen wie jeder andere“ von Christian Pernath erschienen.

Klappentext: Bélouard ist Tierarzt in einem kleinen Ort in der Nähe von Nantes. Enttäuscht, skeptisch und unglücklich lebt er nach einer Trennung allein in seinem Haus, geht seinem Beruf vor allem in der ländlichen Umgebung nach. Eines Tages geschieht etwas Unfassbares: Auf einem der Bauernhöfe wird eine ganze Familie auf fürchterliche Weise umgebracht. Der zutiefst einsame Bélouard, der an nichts und niemanden mehr zu glauben scheint, kennt das Leben der einfachen Leute und wird wider Willen zum Entdecker einer grausamen Wahrheit.

Christian Pernath, geb. 1959 in Nantes, studierte Musik und Kunstgeschichte. Er versuchte sich u.a. als Musiklehrer, Hausmeister, Klempner, Dachdecker, Elektriker, Bienenzüchter, Maurer und Cembalobauer. „Ein Morgen wie jeder andere“ („Un matin de juin comme les autres“, 2006) - sein vierter Roman - war für den Prix Ouest nominiert. Christian Pernath lebt im Department la Drôme. (ber/ mül)

 

Leseprobe:

©dtv©

Erst hier, in seiner weiß gestrichenen Praxis, die kaum größer als eine Garage war, hatte er das Gefühl, zu Hause zu sein. Er zog die Vorhänge vor den Fenstern auf, die beide zur Sackgasse gingen, und legte sein Jackett ab. Gleich wird mir besser …, dachte er. Wenn man nur nicht gleich von mir verlangt, in Gedärmen herumzuwühlen. Er ging hinüber in den kleinen fensterlosen Raum, der als Bad, Küche und Apotheke diente, und brühte sich frischen Kaffee.

Trotzdem angeschmiert, und obendrein niemand, dem man dafür die Schuld geben könnte … Ja, vielleicht gerade deswegen angeschmiert! … Er warf die alte Filtertüte mit dem Kaffeesatz in die Kloschüssel. Die Packung mit den neuen Filtern stand auf einem Regal zwischen lose herumliegenden Spritzen. „Nicht einmal der eine da …“, brummte er diesmal vernehmbar, nachdem ihm eine Sekunde lang das Bild von einer kleinen rundlichen Frau durch den Kopf geschossen war, von einer netten Frau, die fromm, ein bisschen sentimental und sehr geschwätzig war und sich vor einem Kruzifix urplötzlich in ein hasserfülltes Weib verwandelt hatte: Diese kleine rundliche Frau, seine Tante – die verwitwet war und schon damals zwei ihrer drei Kinder verloren hatte –, saß in der Küche und blickte mit gefasster Miene durch die Gardine hinaus auf die Straße, wohl wissend, was sie gleich zu sehen bekäme. Der Tisch, an dem er (mit sieben oder acht Jahren) artig zwischen den Tellern spielte, war schon gedeckt, alles war bereitet, um Gäste zu empfangen: ihren jüngsten Sohn und dessen Frau sowie seine Eltern; etwas später hielt das erste Auto vor dem Haus, am Gartentor, und sie, seine Tante, beobachtete, wie ihre Schwiegertochter ausstieg, um das Auto herumlief, eine der hinteren Türen öffnete, einen Rollstuhl herausholte und auseinanderklappte. Da begann ihre Hand, mit der sie die Gardine festhielt, plötzlich zu zittern – es war ein heftiges, unbezwingbares Zittern, das ein bis zwei Sekunden andauerte. Seine Tante sprang jäh auf. Doch nicht etwa, um hinauszustürzen und ihrem Sohn ntgegenzueilen, sondern um im Gegenteil ans andere Ende des Zimmers zu laufen, zu dem Kreuz, das an der Wand hing. „Du Schwein! Du Schwein! …Warum nimmst du sie mir alle? Hm? … Na los, sag es mir. Warum nimmst du sie mir alle? Was habe ich dir denn getan?…“ Das war alles. Es hatte nur eine Sekunde gedauert. Den Bruchteil einer Erinnerung, die, kurz bevor er seinen Satz angefangen hatte, ans Licht gezerrt und gleich darauf wiederausgelöscht worden war: „… nicht einmal den einen da, gegen den man hätte revoltieren oder dem man sich hätte unterwerfen können.“ Der Kaffee lief jetzt durch die Maschine. Er ging zurück in das Behandlungszimmer.

Es war noch nicht einmal sieben. Also blieb ihm noch genügend Zeit, um wieder auf die Beine zu kommen, bevor es losging. Er machte es sich in seinem Schwingsessel hinterm Schreibtisch bequem. Die Sonne war mittlerweile über dem Dorf aufgegangen, gleißendes Licht fiel durch die Tüllgardinen. In seinen Sessel gefläzt, träumte er vor sich hin, bis er die Kaffeemaschine gurgeln hörte. Dann warf er einen flüchtigen Blick in die Henkeltasse, wo ein Rest Kaffee vom Vortag angetrocknet war, stand träge auf und ging nach hinten, um sie wieder aufzufüllen. Dann setzte er sich wieder hin. Warum nicht Galapagos-Schildkröten, dachte er, oder Komodo-Warane … (was nichts mit der Zeitschrift zu tun hatte, die er aus dem Hinterzimmer mitgebracht und, ohne sie aufzuschlagen, auf den Schreibtisch geschleudert hatte). Sonderlich kommod sollen diese Echsen, die so groß wie Hängematten werden, ja allerdings nicht sein … Ist bestimmt ein ziemlicher Akt, diese kleinen Biester zu behandeln! Ein Funken guter Laune blitzte in seinen müden blauen Augen auf. Aber warum eigentlich nicht? Was könnte mich denn davon abhalten? Schöne Landschaften, Exotik, vielleicht ein wenig Zärtlichkeit … ein kleiner, fester, treuer, mit Safran gewürzter Körper … und bei mir vielleicht ein paar Pfunde weniger. Na ja … sagen wir, es ist mir nicht einmal in den Sinn gekommen. Es ist mir nicht in den Sinn gekommen, dass man, um glücklich zu sein, an einen Ort reisen müsste, dessen Name einen zum Träumen bringt. Was hätte es auch geändert? Wer sagt denn, dass es in Benares oder Samarkand nicht genauso sterbenslangweilig ist wie hier. Wenn man erst einmal dort ist, merkt man womöglich, dass nur der Name und die Entfernung gelockt haben und alles andere die Reise gar nicht wert war … abgesehen vielleicht von dem kleinen, festen, safranfarbenen Körper, der aufmerksam und treu ist, es sei denn, der gehört auch bloß zur Werbung aus dem Faltprospekt … oder man wird seiner auf Dauer genauso überdrüssig wie eines großen weißen Körpers … Mit Ausnahme der Warane. Die gibt es dort jedenfalls, das steht fest. Gepflegt und gehätschelt … und hin und wieder dürfte es auch eine hübsche Herausforderung sein, wenn einer dieser armen Lieblinge mal wieder so unvorsichtig war, sich den Darm mit dem Schienbein eines unglückseligen Touristen zu durchbohren … Wobei Herausforderung vielleicht übertrieben ist: ein Schuss mit dem Betäubungsgewehr, und die Sache ist geritzt … Letztlich also kein großer Unterschied zu meinem Bracken von gestern, abgesehen vielleicht von der Größe und Herkunft des Knochens. Was ändert es schon, wenn man sich ohnehin am liebsten übergeben möchte?

Doch an diesem Morgen brauchte er keine Bäuche aufzuschneiden oder zuzunähen. Nur die Lider einer Katze musste er lösen, so gegen zehn. Aus ihren Augen war zäher gelber Eiter gesickert und über Nacht getrocknet.
Das zwölfjährige Kind, das ihm das Tier brachte, sah sehr besorgt aus.
Er stopfte seine Krawatte zwischen die Knöpfe seines Hemdes.
„Musst du denn nicht zur Schule?“
„Der Lehrer ist heut nicht da …“
„Ach so!… Na, ist doch prima, oder?“
Der Junge antwortete nichts. Beunruhigt schaute er zu, wie Bélouard mit einer Hand die Katze fest auf den Tisch drückte und mit der anderen die Augen betastete.
„Ist es das erste Mal?“
„Nein, das hatte sie schon öfter.“
„Was habt ihr denn die anderen Male gemacht?“
„Mama hat ihr die Augen mit abgekochtem Wasser ausgerieben …“
Er richtete sich wieder auf.
„Halt sie gut fest. Wir machen dasselbe. Ist das deine Katze?“
„Nein. Die meiner Schwester … ich mag keine Katzen“, erwiderte er und hielt das betäubte und blinde Tier am Halsband fest.
„Nicht einmal die hier?“
Da bemerkte der Junge, dass er die Katze schon die ganze Zeit sanft streichelte, und hielt inne.
„Hunde sind mir lieber …“, murrte er.
Bélouard war inzwischen ins kleine hintere Zimmer gegangen, wo er ein Fläschchen mit lauwarmem Wasser auffüllte.
Als er zurückkam, hörte der Junge wieder abrupt auf, die Katze zu streicheln.
„Und hast du einen Hund?“
„Nein … Mama findet Hunde nicht so praktisch.“
Er hatte eine Kompresse angefeuchtet und schaute das Kind einen Augenblick verdutzt an, während er die Kompresse auf Brusthöhe hielt. „Stimmt, sie sind nicht so praktischwie ein Koffer oder ein Föhn“, erwiderte er mit breitem, gutmütigem Lächeln. Das Kind warf ihm bloß einen verwunderten und feindseligen Blick zu.
Dann säuberte er die Lider der Katze. Gelbliche Augenbutter, die getrocknet und braun geworden war, noch bis unter die Lider fand er fingernagelgroße Verkrustungen. Kaum hatte die Katze wieder ein Auge aufbekommen, begann sie zu zappeln.
„Sie zerquetschen sie ja …“, rief das Kind vorwurfsvoll.
„Aber nein, keine Sorge … Außerdem ist es gleich vorbei. Komm, hilf mir mal, sie festzuhalten. Wir geben ihr noch ein paar Augentropfen.“

Dann war er wieder allein; ein wenig benommen. Er blieb eine ganze Weile reglos in dem weißen Raum stehen, in dem eine fast verstörende Stille herrschte und der genauso absurd war wie ein Käfig oder ein Einmachglas; wie betäubt stand er da, ein paar Sekunden lang wirkte er regelrecht bestürzt über das lächerliche Ausmaß dieser Welt, jenseits derer es nichts Festes oder Greifbares zu geben schien, nichts, das irgendwie von Bedeutung gewesen wäre, eine Welt, aus der eben ein Kind und seine Katze verschwunden waren; er war nicht wirklich in ihr gefangen, nichts zwang ihn, in ihr zu verweilen, er hatte bloß ein paar Gründe, da zu sein, und keinen einzigen, aus ihr auszubrechen.
Die einzig wahre Frage, dachte er, lautet im Grunde: Wird auch der Rest der Zeit, die mir bleibt, derart sterbenslangweilig sein?

 

Les Sauvignères. Gegen zehn Uhr. Eine merkwürdige Stille. Erst zehn Uhr. Weil ein Bauer mit einem anderen Bauern verabredet war, dieser aber nicht kam; weil auch niemand ans Telefon ging, weder zu Hause noch ans Handy.

Weißt du noch, als wir damals mit dem Bus zur Schule gefahren sind, wie du dein Gesicht gegen die Heckscheibe gepresst hast und ich meinen Hintern … und man uns beide für Zwillinge hielt? … Mensch, wo steckst du? Seit einer geschlagenen halben Stunde warte ich hier auf dich und schleppe meine Schläuche allein durch die Gegend! Nichts. Keine Reaktion. Allmählich fragte sich Pasquier beunruhigt, ob er seine SMS womöglich an den falschen Empfänger geschickt hatte. Das war schon vorgekommen. Ganz rot war er geworden, während er auf seinem Feld stand und mit seinen ungeschickten, dicken Fingern die Nummer auf seinem Handy überprüfte. Am Ende rief er noch mal an. Erst auf dem Handy, dann auf dem Hof; niemand. Kurzes Warten, dann noch ein Anruf: immer noch nichts. Schließlich hatte er sein Vorhaben, den Mais zu wässern, aufgegeben. Fünf oder sechs Minuten Fahrt mit dem Traktor nach Hause; und dann mit dem Renault schnell hinüber nach Les Sauvignères.
Es war kurz vor elf; der Zeitpunkt, als das Kind mit seiner blinden Katze von zu Hause aufgebrochen war. Pasquier soll sich übergeben haben.
Für alle andern war es in diesem Augenblick noch ein ganz normaler Morgen im Juni. Noch ein wenig kühl, aber sonnig; erfüllt vom Duft des Geißblatts und Ginsters. Erfüllt vom Duft frischen Heus, vom fernen Brummen der Traktoren, vom Summen der Insekten und dem Kreischen der Schwalben; erfüllt vom zänkischen Krächzen junger Krähen und ihrem jähen schwarzen Aufflug. Ein Morgen im Juni mit grünen Weizen- und goldenen Gerstenfeldern, die sich beim leisesten Windhauch sanft hin und her wiegten; mit Klatschmohn, Weißdorn und Flughafer, der aus den hohen Gräsern an den Straßenböschungen ragte und in der flimmernden Luft zitterte. Mit einem herrlichen, hellblauen Himmel, in dem Bussarde kreisten, weiter oben die alten, darunter die jungen, die ihre Flugbahnen noch rundeten und dabei ihre ersten Schreie ausstießen.
Und bereits mit einer endlosen Reihe von Sirenen, Polizeiwagen und Blaulichtern in der Umgebung von Les Sauvignères.
Es war noch nicht einmal Mittag, da erzählte man sich schon die tollsten Dinge.
Im Supermarkt, auf der Straße, in den Läden, im Café: Es gab jene, die etwas gehört oder vorbeifahren gesehenhatten, aber nicht wussten, was. Gerüchte. Gerede. Neugieriges, leicht beunruhigtes, leicht erregtes, eitles Geschwätz … Man sagte, es gebe auch welche, die selbst nachgesehen hätten, aber man wusste noch nicht, was die gesehen hatten. Man wartete noch auf ihre Rückkehr. Angeblich war etwas geschehen, in der Nähe von Les Sauvignères. Ein Drama oder ein Unfall. Man wusste nichts Genaues.
Und dann wusste man es.
Um halb eins wussten es alle.

 ©dtv©

Literaturangabe:

PERNATH, CHRISTIAN: Ein Morgen wie jeder andere. Aus dem Französischen
von Nathalie Mälzer-Semlinger. dtv, München. 220 S., 14, 90 €.

Website:

dtv


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