Werbung

Werbung

Werbung

Ein Paralleluniversum

„Das Orakel vom Berge“ von Philip K. Dick

© Die Berliner Literaturkritik, 16.09.08

 

MÜNCHEN (BLK) – Im August 2008 ist im Heyne Verlag die Neuauflage von Philip K. Dicks’ Science-Fiction-Roman „Das Orakel vom Berge“ erschienen.

Klappentext: „Das Orakel vom Berge“ ist Philip K. Dicks vermutlich berühmtester Roman. Er schildert eine Welt, in der die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewannen und die wirtschaftlich verelendeten USA zwischen Deutschland und Japan aufgeteilt wurden. Während die Deutschen in Afrika und zum Teil auch in Amerika ihre rassistische Vernichtungspolitik fortsetzen, zeigen sich die Japaner, die den Westen der USA annektiert haben, als tolerante, zu kultureller Assimilation fähige und auf Partnerschaft hin orientierte Besatzungsmacht. So lassen sie zum Beispiel einen Autor gewähren, der einen allseits beliebten Roman geschrieben hat – einen Roman, der in einem Paralleluniversum spielt, in dem die Alliierten siegreich waren und die Nazis den Krieg verloren …. Mit „Das Orakel vom Berge“ hat Dick nicht nur ein Meisterwerk der Science Fiction geschrieben, sondern auch einen der großen amerikanischen Romane des 20. Jahrhunderts. Das Buch macht uns die Fragilität geschichtlicher Prozesse ebenso deutlich wie unsere Verantwortung dafür.

Philip K. Dick, 1928 in Chicago geboren, schrieb schon in jungen Jahren zahllose Stories und arbeitete als Verkäufer in einem Plattenladen in Berkeley, ehe er 1952 hauptberuflich Schriftsteller wurde. Er verfasste über hundert Erzählungen und Kurzgeschichten für diverse Magazine und Anthologien und schrieb mehr als dreißig Romane, von denen etliche heute als Klassiker der amerikanischen Literatur gelten. Philip K. Dick starb am 2. März 1982 in Santa Ana, Kalifornien, an den Folgen eines Schlaganfalls. (bah/vol)

 

Leseprobe:

© Heyne Verlag ©

Eins

Seit einer Woche wartete Mr. Robert Childan nun schon mit Spannung auf die Post. Aber die wertvolle Sendung aus den Rocky-Mountain-Staaten war wieder nicht eingetroffen. Als er am Freitagmorgen seinen Laden aufschloss und auf dem Boden unter dem Postschlitz nur Briefe vorfand, dachte er: Da werde ich wohl Ärger mit meinem Kunden bekommen.

Er zapfte sich eine Tasse Instant-Tee aus dem Fünf-Cent-Automaten an der Wand, nahm einen Besen und begann sauberzumachen; bald darauf war das American Artistic Handcrafts Inc. blitzsauber und bereit für den Tag. Die Registrierkasse war voll Wechselgeld, in der Vase waren frische Ringelblumen, aus dem Radio tönte Hintergrundmusik. Draußen hasteten die Geschäftsleute zu ihren Büros in der Montgomery Street. In der Ferne fuhr eine Straßenbahn vorbei; Childan hielt mit der Arbeit inne und sah ihr mit Behagen nach. Frauen in langen, farbenfrohen Seidenkleidern … auch denen sah er nach. Dann läutete das Telefon. Er nahm ab.

„Ja“, sagte eine wohlbekannte Stimme, als er sich gemeldet hatte. „Hier ist Mr. Tagomi. Ist das Rekrutierungsplakat aus dem Bürgerkrieg eingetroffen, Sir? Bitte erinnern Sie sich, Sie haben es mir schon für letzte Woche versprochen.“ Die pedantische, scharfe Stimme, kaum noch höflich, kaum noch auf Manieren achtend. „Habe ich Ihnen nicht eine Anzahlung gemacht, Mr. Childan? Es soll ein Geschenk sein, wissen Sie. Das habe ich Ihnen doch bereits erklärt. Für einen Geschäftspartner.“

„Umfangreiche Nachforschungen“, setzte Childan an, „für die ich selbst aufkommen musste, Mr. Tagomi, Sir. Wie Sie wissen, kommt das erwartete Paket von außerhalb, und daher …“

Tagomi ließ ihn jedoch nicht ausreden. „Dann ist es also noch nicht eingetroffen.“

„Nein, Mr. Tagomi, Sir.“

Eisiges Schweigen.

„Ich kann nicht länger warten“, sagte Tagomi dann.

„Nein, Sir.“ Childan blickte verdrießlich durch das Ladenfenster in den warmen Sonnentag und zu den Bürogebäuden von San Francisco hinaus.

„Dann etwas anders. Ihre Empfehlung, Mr. Childan?“ Tagomi sprach den Namen absichtlich falsch aus; eine wohldosierte Beleidigung, die Childan das Blut zu Kopf steigen ließ. Eine demütigende Zurechtweisung. Robert Childans Hoffnungen, Ängste und Qualen überwältigten ihn, lähmten ihm die Zunge. Er stammelte, seine Hand, die den Telefonhörer hielt, fühlte sich klebrig an. Im Laden roch es nach Ringelblumen; die Musik spielte weiter, doch ihm war, als stürze er in irgendein fernes Meer.

„Also …“, brachte er mühsam hervor. „Ein Butterfass. Ein Speiseeisbereiter, circa 1900.“ Er konnte nicht mehr nachdenken. Gerade dann, wenn man es vergisst; wenn man sich etwas vormacht. Er war achtunddreißig Jahre alt und erinnerte sich noch gut an die Zeit vor dem Krieg, als alles anders war. An Franklin D. Roosevelt und die Weltausstellung; an die bessere Welt, die nun Vergangenheit war. „Könnte ich Ihnen vielleicht ein paar interessante Gegenstände ins Büro bringen?“, murmelte er.

Sie verabredeten sich für zwei Uhr. Ich muss den Laden schließen, dachte Childan, als er auflegte. Keine andere Wahl. Solche Kunden muss ich mir gewogen halten; das Geschäft hängt davon ab.

Er zitterte, und auf einmal merkte er, dass jemand den Laden betreten hatte – ein Pärchen. Ein junger Mann und ein Mädchen, beide gutaussehend, gutgekleidet. Perfekt. Er beruhigte sich und trat ihnen mit einem geschäftsmäßigen Lächeln entgegen. Sie beugten sich gerade über eine Auslage, hatten einen hübschen Aschenbecher hochgehoben. Vermutlich verheiratet. Wohnten wohl außerhalb in der Nebelstadt, in den neuen, exklusiven Hochhausappartements oberhalb von Belmont.

„Hallo“, sagte er und fühlte sich gleich besser. Ihr Lächeln war ohne Herablassung, pure Freundlichkeit. Seine Exponate – tatsächlich die besten ihrer Art an der ganzen Küste – hatten sie wohl beeindruckt; das sah er und war dankbar dafür. Sie zeigten Verständnis.

„Wirklich ausgezeichnete Stücke, Sir“, sagte der junge Mann.

Childan verneigte sich spontan.

Ihre Augen leuchteten warm. Verliebtheit zeigte sich darin, aber auch das Vergnügen, das sie bei der Betrachtung der Kunstgegenstände miteinander teilten; sie dankten ihm dafür, dass er all dies für sie bereithielt, Dinge, die sie in die Hand nehmen und betrachten konnten, auch ohne sie kaufen zu müssen. Ja, dachte er, sie wissen,in was für einem Laden sie sind; das sind keine Ramschwaren für Touristen, keine billigen Rotholzspangen mit der Aufschrift Muir Woods, Marin County, PSA, keine komischen Anstecker, Plastikringe, Postkarten oder Ansichten von der Brücke. Besonders die Augen des Mädchens, groß und dunkel. Wie leicht, dachte Childan, könnte ich mich in ein solches Mädchen verlieben. Wie tragisch mein Leben dann wäre – als wäre es nicht schon schlimm genug. Das modisch frisierte schwarze Haar, die lackierten Fingernägel, die für die herabbaumelnden handgefertigten Messingohrringe durchbohrten Ohren.

„Ihre Ohrringe“, murmelte er. „Hier gekauft?“

„Nein“, sagte sie. „Zu Hause.“

Childan nickte. Keine zeitgenössische amerikanische Kunst; in einem Laden wie seinem hatte nur die Vergangenheit Platz. „Bleiben Sie länger hier?“, fragte er. „In San Francisco?“

„Ich wurde auf unbestimmte Zeit hierher versetzt“, erwiderte der Mann. „Zur Kommission zur Verbesserung des Lebensstandards benachteiligter Regionen.“ Stolz spiegelte sich in seinem Gesicht wider. Kein Militär. Keiner dieser Kaugummi kauenden ungehobelten Rekruten mit den gierigen Bauerngesichtern, die über die Market Street schlenderten und die Pornoläden begafften, die Sexfilme, die Schießbuden, die billigen Nachtclubs mit den Fotos grinsender, gealterter Blondinen, die mit schrumpligen Fingern ihre Brustwarzen rubbelten … die Jazzschuppen, die sich in der flachen Gegend San Franciscos drängten, aus Wellblech und Dachpappe errichtete Kaschemmen, die aus den Ruinen entstanden waren, noch ehe die letzte Bombe gefallen war. Nein – dieser Mann gehörte zur Elite. Kultiviert, gebildet, vielleicht sogar in höherem Maße als Mr. Tagomi, der immerhin ein hoher Beamter bei der Handelsmission für die Pazifikküste war. Tagomi war ein alter Mann. Seine ganze Haltung war zu Zeiten des Kriegskabinetts geprägt worden.

„Suchen Sie traditionelle amerikanische Volkskunst als Geschenk?“, fragte Childan. „Oder wollen Sie eine Wohnung für die Dauer Ihres Aufenthalts ausstatten?“ Sollte er mit der zweiten Vermutung recht haben … Sein Herz schlug unwillkürlich schneller.

„Gut geraten“, sagte das Mädchen. „Wir fangen gerade an, uns einzurichten. Sind noch ein bisschen unentschlossen. Könnten Sie uns vielleicht beraten?“

„Ja, ich könnte in Ihre Wohnung kommen. Ich bringe ein paar Musterkoffer mit, dann können Sie in aller Ruhe aussuchen. Das ist nämlich unsere Spezialität.“ Childan senkte die Augen, um seine Hoffnung zu verbergen. Hier waren womöglich Tausende zu holen. „Ich bekomme demnächst einen Tisch aus Neuengland, Ahorn, alles mit Holzteilen gefertigt, keine Nägel. Wunderschön und wertvoll. Und einen Spiegel aus der Zeit des Krieges von 1812. Und Eingeborenenkunst: einen Satz Ziegenhaarteppiche, gefärbt mit Pflanzenfarben.“

„Ich persönlich“, sagte der Mann, „ziehe die städtische Kunst vor.“

„Ja“, erwiderte Childan eifrig. „Hören Sie, Sir. Ich habe da ein Wandgemälde aus der Zeit von Roosevelts Arbeitsbeschaffungsprogramm für Künstler, auf dem Horace Greeley abgebildet ist. Ein Original, ausgeführt auf Holz, in vier Teilen. Für Sammler von unschätzbarem Wert.“

„Oh“, machte der Mann, und seine Augen funkelten. „Und einen Grammophonschrank von 1920, umgebaut zu einer Hausbar.“

„Oh.“

„Und jetzt kommt das Beste, Sir: ein gerahmtes, signiertes Foto von Jean Harlow.“

Der Mann riss staunend die Augen auf.

„Wollen wir eine Verabredung treffen?“, fragte Childan, den psychologisch günstigen Moment beim Schopf ergreifend. Er zückte Kugelschreiber und Notizbuch. „Ich werde mir Ihren Namen und Ihre Adresse notieren, Sir.“

Anschließend ging das Pärchen hinaus. Childan blickte auf die Straße, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Freude. Wenn das Geschäft immer so liefe … Doch es ging nicht bloß ums Geschäft, um den Erfolg seines Ladens. Dies war eine Gelegenheit, ein junges japanisches Paar privat kennenzulernen, auf der Basis, dass sie ihn als Menschen akzeptierten und nicht bloß als Yank oder bestenfalls als Kunsthändler. Ja, diese jungen Leute der heranwachsenden Generation, die sich nicht mehr an die Vorkriegszeit oder den Krieg erinnerten – sie waren die Hoffnung der Welt. Standesunterschiede bedeuteten ihnen nicht mehr viel.

Irgendwann wird Schluss sein, dachte er. Eines Tages. Kein Standesdünkel mehr. Keine Regierten und Regierenden mehr. Nur noch Menschen.

Gleichwohl zitterte er vor Angst bei der Vorstellung, wie er an ihre Tür klopfte. Er zog seine Notizen zurate.

Die Kasouras. Man würde ihn einlassen und ihm bestimmt Tee anbieten. Würde er sich richtig verhalten? Würde er in jedem Moment das Richtige tun und das Richtige sagen? Oder würde er sich Schande bereiten, wie ein Tier, durch irgendeinen dummen Fauxpas?

Das Mädchen hieß Betty. So viel Verständnis in ihrem Gesicht, dachte er. Dieser sanfte, mitfühlende Blick. Zweifellos hatte sie schon in der kurzen Zeit im Laden seine Hoffnungen und Niederlagen durchschaut.

Seine Hoffnungen – auf einmal fühlte er sich benommen.Welche Ambitionen, die an Wahnsinn, wenn nicht an Selbstmord grenzten, hatte er denn? Doch es gab Beziehungen zwischen Japanern und Yanks, obwohl der Mann zumeist ein Japaner und die Frau eine Yank war. Diese … Bei der Vorstellung verzagte er. Und sie war verheiratet. Er verbannte die auf ihn einstürzenden Gedanken aus seinem Bewusstsein und machte sich stattdessen daran, die Morgenpost zu öffnen.

© Heyne Verlag ©

Literaturangaben:
DICK, PHILIP K.: Das Orakel vom Berge. Roman. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Norbert Stöbe. Heyne Verlag, München 2008. 352 S., 9,95 €.

Verlag


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: