TÜBINGEN (BLK) – Im August 2010 ist im Klöpfer & Meyer Verlag der politische Roman von Joachim Zelter unter dem Titel „Der Ministerpräsident“ erschienen.
Klappentext: Ein politischer Roman, eine politische Satire. Die punktgenau trifft. Und zu denken gibt. Voller Esprit. Mitreißend erzählt. Dass er einen Autounfall hatte, dass dabei einiges passiert sei, insbesondere in seinem Kopf und mit seinem Gedächtnis. Dass er zehn Tage im Koma gelegen habe und erst seit Kurzem wieder wach sei ... Und: dass er Claus Urspring heiße und er Ministerpräsident sei und es auch bleiben werde - ein politischer Begriff, ein Inbild der Vertrautheit und Unverrückbarkeit, der kurz vor einem alles entscheidenden Wahlkampf stehe ... All das und noch einiges mehr erfährt Claus Urspring, ein von Wahlkampfhelfern und politischen Beratern Getriebener, ein soufflierter und inszenierter Mensch, der seit seinem Unfall kaum mehr weiß, wer er einmal war und was mit ihm eigentlich ist. Zwischen liebenswerter Ahnungslosigkeit und kindlichem Erstaunen, zwischen Fremdsteuerung und eigensinniger Selbstbehauptung erzählt der Roman einen um Erinnerungen und Selbstfindung ringenden Helden, der sich in einer Welt wieder findet, in der Politik nur noch leere Inszenierung und inhaltloser Schein ist.
Joachim Zelter wurde 1962 in Freiburg geboren. Nach seiner Schulzeit studierte er englische Literatur in Tübingen und Yale, wo er auch lehrte. Seit 1997 arbeitet Zelter als freier Schriftsteller und ist Autor von Romanen, Erzählungen und Theaterstücken, die an zahlreichen deutschen und österreichischen Bühnen gespielt werden. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Bei Klöpfer & Meyer sind erschienen: „Briefe aus Amerika“. Roman (1998), „Die Würde des Lügens“. Roman (2000), „Die Lieb-Haberin“. Roman (2002), „Das Gesicht“. Roman (2003), „Betrachtungen eines Krankenhausgängers“. Erzählungen (2004), „Schule der Arbeitslosen“. Roman (2006).
Leseprobe:
©Klöpfer & Meyer©
Was ein Sonntag ist? Wollte ich wissen. Denn heute war Sonntag. Das sagte mir die Ärztin. Also fragte ich sie, was das sei, ein Sonntag? Und sie antwortete: Ein Sonntag ist ein Tag. Ein Tag neben anderen Tagen. Es gibt nicht nur einen, sondern viele Tage. Heute ein Tag, morgen ein Tag, übermorgen ein Tag … Das war einleuchtend.
Ich wollte eine Zahl wissen, eine grobe Zahl, wie viele Tage es ungefähr geben könnte: 300 Tage, 600 Tage, 1000 Tage? Nein, sagte die Ärztin, es sind sieben Tage. Nur sieben Tage? Das war wenig. Sie fragte, ob ich einige dieser Tage kennen würde? Nein, ich kannte keinen dieser Tage. Sie nannte zum Beispiel den Sonntag. Das sei ein Tag, sagte sie. Ob mir vielleicht andere Tage einfielen? Und ich sagte Mondtag. Das war ein Tag, der mir einfiel. Und sie sagte: Ja, fast richtig, Montag, ohne Mond, und sie nannte weitere Tage, Dienstag, Mittwoch, und ich nannte ihr die restlichen Tage, Donnerstag und Freitag und Samstag, und sie war glücklich.
Sieben Tage, vier Jahreszeiten, zehn Finger, zwölf Monate, neunundzwanzig Buchstaben und zahlreiche andere Zahlen, die ich kannte. Zum Beispiel mein Geburtsdatum. Oder die Geheimnummern meiner Scheckkarten. Oder einige Telefonnummern. Die Ärztin fragte nach diesen Nummern, und ich nannte ihr die Nummern in rasender Geschwindigkeit, und das überraschte sie.
Sie blieb bei mir und sprach von Lücken.
Lücken?
Jawohl, Lücken.
Welche Lücken?
Sie meinte Lücken in meinem Kopf. Namenslücken, Freundeslücken, Familienlücken, Berufslücken, Landschaftslücken, Erinnerungslücken, Wortlücken und andere Lücken … Sie setzte sich auf einen Stuhl und fand immer weitere Lücken. Ich fragte sie, was das sei, eine Lücke? Sie antwortete: Eine Lücke sei etwas, das nicht mehr ist, wo vorher etwas war. Vielleicht ist bei einer Lücke aber auch etwas nicht da, wo vorher auch nichts da war. Wie will man das wissen? Sie sagte nichts.
Ich sollte ihr nachsprechen. Oder mit ihr sprechen. Oder angefangene Wörter weitersprechen. Die Unterschiede zwischen einzelnen Buchstaben mit meiner Zunge spüren, zum Beispiel den Unterschied zwischen den Buchstaben D und T. T nicht wie D sprechen, D nicht wie T sprechen. Nicht Tuten, sondern Duden. Nicht Busen, sondern Blusen. Sie trug weiße Blusen. Wunderschöne Blusen.
Herr März kam. So nannte er sich: März. Julius März. März wie Januar, Februar, März. Er kannte mich. Er kannte mich mit einer Vehemenz, die mich beeindruckte. Er fragte gar nicht: Ob auch ich ihn kenne? Es gab für ihn keinen Zweifel, dass ich ihn kenne. Schon seit Jahren. So sah er jedenfalls aus. Als würde oder müsse man ihn schon lange kennen. Er sprach lautstark. In mein Bett hinein. Und über mein Bett hinweg: Was ich für Sachen machen würde? Heijeijei. Was mit meinem Gesicht sei? Heijeijei. Ich hörte von einer Lähmung. Einer Lähmung meiner rechten Gesichtshälfte. So erklärte ihm das die Ärztin. Das rechte Auge schließe nicht ganz. Dafür reagierten die Pupillen. Bei einer immer noch starren Mimik. Und mein Mund sei noch ein wenig schief. Doch das werde wieder. Hörte ich sie sagen. Und März antwortete: Hoffentlich. Er verabschiedete sich. Drückte meine Hand. Mit beiden Händen drückte er meine Hand. Und er sagte: Du. Nicht Sie, sondern Du. Dann ging er.
Kein Radio, kein Fernsehapparat. Dass das nicht gut sei, sagte die Ärztin, ein Radio, ein Fernseher an meinem Bett. Jedenfalls nicht jetzt. Dass mich das aufregen und erschrecken könnte. Dafür Blumen, in allen Farben und Variationen. Verbunden mit Grüßen und den besten Wünschen von zahllosen Menschen.
Sie, die Ärztin, reichte mir ein Notizheft, in das ich schreiben sollte. Zum Beispiel meinen Namen, Claus Urspring. Ich konnte den Namen auf Anhieb schreiben. Obgleich der Name seltsam klang. Wie aus einem Traum. Claus Urspring. Und ich konnte den Namen auch lesen. Doktor Claus Urspring. Was die Ärztin erfreute. Sie freute sich auch über meine Schrift. Sie sagte, das sei eine sehr flüssige und schöne Schrift. Ich fragte sie nach ihrem Namen, und sie antwortete: Doktor Wolkenbauer. Und ich schrieb den Namen ins Notizheft.
Alles, was mir einfiel, sollte ich aufschreiben.Was ich wusste und was ich nicht wusste.Was ich wissen wollte oder auch nicht wissen wollte. Was ich verstand oder nicht verstand. All das sollte ich aufschreiben. Selbst über den Schnee sollte ich schreiben. Ich wünsche mir einige Zeilen von Ihnen über den Schnee, sagte sie. Schreiben Sie Erinnerungen, Szenen, Bilder, Überlegungen zum Schnee.
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Schnee?
Jawohl, Schnee.
Oft verstand ich sie nicht. Sie sagte dann: Falls ich etwas nicht verstehen würde, dann sei das nicht schlimm. Ich solle dann einfach einen Strich in mein Heft machen. Auf die rechte Seite. In eine Spalte mit der Überschrift: Verstehe ich nicht. Und so machte ich Strich auf Strich. Verstehe ich nicht. Zum Beispiel als sie über das Wort Doktor in meinem Namen sprach. Doktor Urspring. Dass das kein Vorname sei, Doktor, sondern ein Titel, eine Anrede, ein Rang. Das sei ein Doktor. Sie sei Doktor und ich sei Doktor, aber die Pflegerin, sie sei kein Doktor – was ich nicht verstand. Warum sollte sie kein Doktor sein? Warum nicht? Trotzdem nickte ich. Bis Frau Doktor Wolkenbauer mir das Notizheft aus der Hand nahm und all die Striche sah, die ich gemacht hatte: Verstehe ich nicht. Warum ich dann trotzdem die ganze Zeit genickt hätte? Wenn ich sie gar nicht verstehen würde. Um ihr eine Freude zu machen, antwortete ich.
Dass ich einen Autounfall gehabt hatte. Dass dabei einiges passiert sei, insbesondere in meinem Kopf und mit meinem Gedächtnis. Dass ich zehn Tage im Koma gelegen hätte. Dass ich erst seit Kurzem wieder wach sei. Dass alle Welt bestürzt und besorgt gewesen sei – und ohne Worte. Wegen meines Unfalls.
Unfall?
Jawohl, Unfall.
Doch ich verstand nicht Unfall, sondern Umfall, und ich fragte März, was das bedeute, ein Umfall? Und März lächelte und sagte: Dass das kein Umfall gewesen sei, den ich hatte, sondern ein Unfall. Das sei ein Unterschied. Er beäugte die Infusionsflasche und blätterte in Akten. So nannte er die Papiere auf seinem Schoß. Akten. Er grüßte. Er grüßte von Mitarbeitern und Freunden. Er grüßte von seiner Frau und von zahllosen Namen. Er grüßte mit zählenden Fingern. Er grüßte, bis ich müde wurde.
Ein Blumenstrauß stand auf meinem Nachttisch. Auf einem anderen Tisch standen weitere Blumensträuße. Blumenstrauß neben Blumenstrauß. Nie sah ich so viele Blumensträuße. Während März telefonierte: Dass es mir täglich besser gehe. Dass mein Zahlengedächtnis sehr zufriedenstellend sei. Angesichts der Schwere des Unfalls. Dass ich zum Beispiel die Nummern meiner Scheckkarten kennen würde. Dass ich die Blumen auf meinem Nachttisch riechen könne. Dass das ein gutes Zeichen sei, habe ihm die Ärztin versichert. Dass ich immer deutlicher sprechen würde. Nur hin und wieder verwechselt er noch Namen und Zeiten und Gesichter. Doch das wird wieder. So März.
Er wich nicht von meiner Seite. Ob er mir etwas bringen dürfe? Etwas zu trinken? Oder sonst irgendetwas? Ich verneinte. Er saß bedächtig auf einem Stuhl und beobachtete alle im Raume befindlichen Apparaturen. Zum Beispiel die Anschlüsse über meinem Bett: Sauerstoff. Vakuum. Druckluft. Er berührte die Anschlüsse mit seinen Fingern – ehrfurchtsvoll. Oder er lief durch das Zimmer und zählte Blumensträuße. Siebzehn Blumensträuße. Allein nur in meinem Zimmer. Und weitere Blumensträuße standen oder warteten vor dem Zimmer. Er zählte nicht nur Blumensträuße, sondern auch Infusionsflaschen. Drei verschiedene Infusionen, die mir zugeführt wurden. Und er erzählte mir, dass gleich nach dem Unfall acht verschiedene Schläuche in mir gewesen waren: Beatmungsschlauch, Magensondenschlauch, Katheterschlauch, Drainageschlauch und vier Infusionsschläuche.
Und er erzählte mir von Mitpatienten, die er, März, in der Klinik gesehen hatte, alles nette und respektable Patienten: Schauspieler, Bankiers, Universitätsprofessoren … Auch ein Fußballspieler. Selbst Patienten aus Amerika. Mancher Patient ließ grüßen. Und ich grüßte zurück. Wer immer dieser oder jener Patient, der mich grüßte, auch sein mochte. Ich grüßte zurück. Über manche Patienten, die März gesehen hatte, sprach er flüsternd:
Auch so ein …
Wie bitte?
Auch so ein …
Auch so ein wer?
Auch so ein (geduckt gesprochen) Versehrter. Fast jeder Patient, von dem er sprach, war ein Auch. Auch so ein Fall. Auch so eine Sache. Auch so ein Unglück.
Und er zählte wieder Blumensträuße. Mehr als zwanzig Blumensträuße, die nun in meinem Zimmer standen. Er behandelte diese Blumen wie überfällige Gaben. Na also, sagte März, wenn ein neuer Blumenstrauß hereingetragen wurde. Na also. Als ob es höchste Zeit wäre. Und er sprach erneut ein Auch: Auch gut, wenn eine Topfpflanze hereingebracht wurde. Oder: Auch so ein Fall. Wenn der Hubschrauber neue Patienten in die Klinik brachte. Oder er sagte: Oder. Es geht doch, oder? Oder er sagte denn. Geht es denn? Danke ja, es ging denn. Oder wenn nicht denn, dann bereits oder schon …
Denn, bereits, schon – fragte er die Ärztin. Er wolle nicht beunruhigen. Doch es müssten einige Akten verlesen werden. Und Unterschriften geleistet werden. Nur ganz wenige, jedoch sehr wichtige Unterschriften. Unterschriften von einiger Tragweite. Doch Frau Wolkenbauer verbot das, und Julius März packte die Akten wieder zusammen. Für einige Zeit wirkte er devot. Er half den Schwestern beim Abräumen des Essens. Mit leichten Verbeugungen stand er auf und öffnete ihnen die Tür. Deutete federnden Schrittes an, wie gesund er ist. Und er lobte. Er lobte die Ärzte, er lobte die Pfleger, er lobte die Klinik. Heiligenberg. Er sagte: Das sei eine sehr gute Klinik. In nicht wenigen Fachbereichen sei die Klinik führend. Patienten aus aller Welt seien hier. Auf einem Korridor habe er sogar arabische Stimmen gehört. Und er las mir aus dem Klinikprospekt einige Sätze vor: Heiligenberg. Traumatologisches Schwerpunktkrankenhaus der Maximalversorgung. Fast ein wenig schwärmerisch sagte er das. Maximalversorgung. Mitten im Hochschwarzwald. Er zeigte mir den Prospekt. Damit ich eine Ahnung bekomme, wo ich überhaupt war. Nicht irgendwo, sondern in Heiligenberg. Ich blätterte in dem Prospekt und betrachtete die Fotos. Das Klinikum hoch erhoben im Schwarzwald. Unten im Tal liegt Nebel. Die Klinik aber steht in der aufgehenden Sonne. Ein Hubschrauber fliegt auf sie zu. Willkommen.
©Klöpfer & Meyer©
Literaturangabe:
ZELTER, JOACHIM: Der Ministerpräsident. Klöpfer & Meyer Verlag, Tübingen 2010. 188 S., 18,90 €.
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