MÜNCHEN (BLK) – Der neue Roman „Sturmflut“ von Margriet de Moor ist im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen.
Klappentext: Ein doppelbödiger Roman um Zufall und Schicksal, Begehren und Loyalität, Identität und Verlust, das Ringen um Gelassenheit mitten im Leben, mitten im Tod. Schicksalstausch zweier Schwestern. Armanda hat versprochen, nach Zeeland zu fahren, um dort ihr Patenkind zu besuchen. Am selben Wochenende will Lidy mit ihrem Mann in Amsterdam auf eine Party gehen. So sollte es ein, aber dann bricht Lidy an Armandas Stelle Richtung Schouwen-Duiveland auf, während Armanda die Tochter der Schwester hütet und sich mit deren Mann, in den sie unausgesprochen verliebt ist, auf der Fete vergnügt. Und so kommt es, dass Armanda zurückbleibt, während Lidy in die historische Flutkatastrophe von 1953 gerät, die fast den ganzen Südwesten der Niederlande von der Landkarte fegt. Dem äußeren Katastrophenszenario stehen die inneren Verhältnisse gegenüber. Die Zurückbleibende versucht ein richtiges Leben im falschen - ihrer Schwester - zu führen.
Margriet de Moor, geboren 1941, studierte in Den Haag Gesang und Klavier. Nach einer Karriere als Sängerin, vor allem mit Liedern des 20. Jahrhunderts, studierte sie in Amsterdam Kunstgeschichte und Architektur. Sie veröffentlichte zunächst die Erzählungsbände „Rückenansicht“ (dtv 11743) und „Doppelportrait“ (dtv 11922). Schon ihr erster Roman „Erst grau, dann weiß, dann blau“ (dtv 12073) wurde ein sensationeller Erfolg und in alle Weltsprachen übersetzt. (tan/wag/wip)
Leseprobe:
© Deutscher Taschenbuch Verlag ©
1 Eines rauhen Morgens nahmen sie Abschied voneinander
Die eine, Lidy, stand am Fenster und schaute hinaus. Es war einer dieser Morgen mitten im Winter, wenn es gerade hell wird und der Sturm der vergangenen Nacht nicht mehr behaglich ist, sondern quengelig und nervend. Sie hielt ihre kleine Tochter auf dem Arm, den Mantel hatte sie bereits zugeknöpft. Im Aufbruch begriffen, zögerte sie diesen Moment noch ein wenig hinaus wie jemand, der gern mal fort will, wenn es sich so ergibt, ebenso gern aber daheim bliebe. Daß der ganze Plan nicht von ihr stammte, sondern von Armanda, spielte keine Rolle. In diesem Moment dachte sie nur: Ich habe Lust, mal wieder Auto zu fahren. Kümmere du, Armanda, dich heute und morgen um meine Tochter und geh heute abend mit meinem Mann zur Fete deiner Freundin, die zufällig seine Halbschwester ist. Morgen, spätestens am Nachmittag, bin ich wieder zurück.
Die Wohnung nahm das zweite und dritte Stockwerk in einem der herrschaftlichen Häuser an einem kleinen Park in einem einfachen Wohnviertel ein. Gedankenverloren blickte sie über die schwarzen, kahlen Baumwipfel auf das Rechteck der Häuserfassaden. Sie merkte nicht, daß schräg gegenüber in einer Dachrinne eine Männergestalt herumkroch, bis ihren Händen plötzlich eine flatternde Fahne entsprang, die sofort straff zitternd im Nordwestwind
stand. Es war der letzte Tag im Januar. Wenn ihr jemand gesagt hätte, daß sie sich, Nadja fest im Arm, alles noch einmal genau ansehen solle, weil ihr Abschied ein Abschied für immer war, hätte sie im Innersten zwar gewußt, daß so etwas jederzeit möglich ist, im Leben, aber sie hätte es nicht geglaubt. Sie war schließlich erst dreiundzwanzig.
Also fragte sie leichthin, ohne sich umzudrehen: „Ob es schneien wird?“
Und Armanda, die mit einem Becher Kaffee in der Hand vom Tisch aufstand, antwortete: „Aber nein, dafür ist der Wind zu stark“, ohne die leisesten Gewissensbisse in der Stimme. Sie begann jetzt auf und ab zu gehen, mit großen Schritten und währenddessen von ihrem Kaffee schlürfend, wie es ihrer Gewohnheit entsprach. Nicht zuletzt, weil sie ihre Schuhe ausgezogen hatte und einen Rock mit einer Strickjacke trug, war sie es, die hier, in den hohen Räumen mit der Stuckrosette an der Decke, zu Hause zu sein schien, und nicht Lidy. Viel Licht gab es nicht. Im hinteren Zimmer standen die Möbel fast im Dunkeln. Im Schein einer grünen Schirmlampe war lediglich ein an die Wand geschobener Tisch zu sehen und auf ihm ein paar Gegenstände, Teekanne, Telefon, eine Mappe, umschlungen von einem Band, sowie die Tür zum Flur und zu den Treppen. Das Haus war heruntergekommen wie die meisten dieser großen Kästen am Park, und auch hier waren die schönen Hartholztüren im Krieg verheizt worden. Doch vor allem an den Räumen im dritten Stock, wo es nach Betten, Kleidern, Seife und Kosmetika roch, konnte man den Stil des Fin de siècle noch immer erkennen. In den Schlafzimmern wurde das Licht von Bleiglasscheiben im oberen Teil der Fenster gefiltert.
Eine Regenbö klatschte an die Scheiben und rann herab. Lidy spähte durch die Tropfen hinaus. Gut, entschied sie, ich nehme den Weg entlang der Küste. Hinter Rotterdam fahre ich nicht über den Moerdijk, sondern bei Maassluis mit der Fähre über den Nieuwe Waterweg. Sie hatte sich noch kaum Gedanken über die Route gemacht, doch sie wußte, im Auto lagen Karten. Ich seh dann schon, was ich mache. Zwischen zwei Böen war es für einen Augenblick so still, daß sie die Bodenbretter unter Armandas Füßen knarren hörte, und als selbst das aufhörte, wußte sie, daß auch die andere in das Sauwetter hinausblickte.
„Doch irgendwie komisch, daß ich die Leute überhaupt nicht kenne“, sagte sie.
„Ihnen wird es nichts ausmachen“, sagte Armanda, jetzt am Fenster nebenan. »Sie haben mich auch ein Jahr lang nicht gesehen.“ Sie kicherte spöttisch. „Gut möglich, wenn du in das Hotel kommst, du weißt doch, Hotel Kirke in der Verre Nieuwstraat, daß sie sich dann alle vertun und wirklich nicht gleich daran denken, daß du nicht ich bist, sondern, ähm, eben du.“
Kleines verärgertes Grinsen, bei beiden.
Sie sahen sich ähnlich. Das fanden alle. Sie waren große Mädchen mit schmalen, starken Schultern, immer leicht vorgebeugt, was ihnen etwas Besorgtes gab, das in Wirklichkeit gar nicht da war. Und hätten sie sich in diesem Moment umgedreht, dann hätte das simultane Porträt erst recht frappiert: dunkles, fast schon kastanienschwarzes Haar, das glatt hinter den Schultern verschwand, die zarten kleinen Ohren freiließ und die Stirn mit dem gerade geschnittenen Pony völlig verdeckte. Über diese Stirnen würde kein Mensch je etwas wissen. Aus dem doppelten Augenpaar konnte man dann alles mögliche herauslesen, Fröhlichkeit, Betrübtheit, Spottsucht, Lustlosigkeit, Schwärmerei, und auch, daß all das sehr rasch wechseln konnte, doch was vor allem daraus zu sprechen schien, war, daß das Schwesternpaar die Welt höchstwahrscheinlich mit exakt dem gleichen Blick wahrnahm und beurteilte.
Lidy stellte Nadja auf den Boden und umarmte sie. Täuschende Ähnlichkeit hin oder her, sie war hier die Mutter. „Paß auf, daß sie sich nicht erkältet“, murmelte sie, während sie, am Boden hockend, die Nase an den Hals des Kindes drückte, mit einem gewissen Gefühl des Selbstbewußtseins, das von den zahllosen Malen herrührte, die sie das Mädchen von Babytagen an nachts zu sich ins Bett genommen hatte, während sie ihrem Mann zuflüsterte, ein Stückchen beiseite zu rücken und vielleicht auch etwas leiser zu schnarchen.
Sie stand schon wieder. „Hast du mir jetzt die Autoschlüssel gegeben oder nicht?“ Während sie in ihren Manteltaschen kramte, sah sie sich um.
Beide begannen, durch die Zimmer zu gehen. Sie suchten auf den Möbeln, bis Armanda einfiel, daß sie die Schlüssel zu Hause hatte liegenlassen.
“Dann geh ich jetzt“, sagte Lidy. „Ich hol sie mir dort.“ Auf dem Flur sagte Armanda: „Vergiß das Geschenk nicht“, und steckte der anderen ein Päckchen zu. Sie küssten sich flüchtig. Als Armanda sagte: „Grüß schön“, lachten sie beide.
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Literaturangaben:
MOOR, MARGRIET DE: Sturmflut. Roman. Übersetzt aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2008. 352 S., 9,90 €.
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