STUTTGART (BLK) – Im September 2008 ist das „DIE ZEIT Literatur-Lexikon“ der Wochenzeitung DIE ZEIT im J.B. Metzler Verlag herausgegeben worden.
Klappentext: Über 1.400 Autoren, rund 3.000 Sachbegriffe: Das „ZEIT Literatur-Lexikon“ bietet in 6 Bänden einen fundierten Überblick über die Welt der Literatur. Anschauliche Essays porträtieren Leben und Werk der wichtigsten Autorinnen und Autoren – darunter zahlreiche deutschsprachige – von der Antike bis in die Gegenwart. Detailliertes Hintergrundwissen zur europäischen Literatur vermitteln die Bände 5 und 6 mit Artikeln zu den Epochen und Gattungen der Literaturgeschichte, zu Rhetorik, Stilistik, Literaturtheorie, Verlagswesen u. v. m. Ein besonderer Schwerpunkt liegt hier auf der deutschen Literatur seit dem Mittelalter. Abgerundet wird das Lexikon durch die „ZEIT-Aspekte“ – Originalbeiträge aus der ZEIT, die sich im Anhang der Bände 1 bis 4 finden. Informatives Nachschlagewerk und Lesevergnügen zugleich.
DIE ZEIT ist eine überregionale deutsche Wochenzeitung. (bah)
Leseprobe:
© J.B. Metzler ©
Abe Kôbô
Geb. 7. 3. 1924 in Tôkyô;
gest. 22. 1. 1993 in Tôkyô
Die deutlichen Anklänge an Themen, Motive und Erzählfiguren aus dem Kanon der abendländisch-westlichen Moderne waren es vermutlich vor allem, die die Rezeption Abe Kôbôs im Ausland förderten. So wurde er gleichermaßen in Ländern des früheren Ostblocks wie in den Vereinigten Staaten, in West- wie in Südeuropa rezipiert und galt vielfach als besonders „internationaler“ Autor, dessen Schaffen die Spezifik japanischer Kultur und Geschichte hinter sich gelassen habe, um universale Themen in universaler Sprache zu fiktionalisieren.
Eigenen Aussagen zufolge wurde A. von der Erfahrung der Fremde in der japanisch besetzten Mandschurei geprägt, wo sein Vater als Arzt tätig war und wo er seine ersten 17 Lebensjahre verbrachte. 1940 wurde er auf ein Gymnasium nach Tôkyô geschickt; er studierte von 1943 bis 1948 Medizin an der Universität Tôkyô. Während des Studiums begann er, Lyrik zu schreiben, beschäftigte sich mit dem Surrealismus und liebäugelte ab 1949 mit der Kommunistischen Partei, aus der er nach einem Zerwürfnis 1962 ausgeschlossen wurde. Bereits seine ersten Erzählungen enthalten die immer wiederkehrenden Kernmotive seiner Literatur: das Thema Heimatlosigkeit, das Umherirren, die Suche oder Flucht sowie das Motiv der Verwandlung. So beschreibt die Kurzgeschichte „Akai mayu“ (1950; „Der rote Kokon“, 1985) die Verwandlung eines namenlosen Mannes in einen hohlen Kokon, der an einem Bahnübergang liegenbleibt und schließlich in die Spielzeugkiste eines Kindes gerät. Wiederholt wird bei Verwandlungen, etwa in eine Pflanze oder in einen Stock, auf Dantes Commedia Divina angespielt. Bereits in A.s erstem Prosawerk, dem 1947 entstandenen Roman Owarishi michi no shirube ni (Als Zeichen für den zurückgelegten Weg), klingt das Thema der Flucht bzw. des Umherirrens an: Ein Mann sucht in der Mandschurei seine Heimat, doch ist es ihm weder vergönnt, sein Geburtsland Japan zu erreichen noch eine „innere“ Heimat zu finden. Am Ende stehen Gefangenschaft, Entfremdung und Identitätsverlust. Zwar werden in den Deutungen der Werke A.s die Bezüge zur Biographie hervorgehoben, doch dienen die Themen Heimatlosigkeit, Entwurzelung und Suche A. vor allem als Chiffre der modernen Existenz. Fremdheit und Unbehaustheit prägen auch die Werke der 1960er und 1970er Jahre bis hin zu den letzten Erzählwerken, etwa dem postum publizierten Romanfragment Tobu otoko (1993; Der Mann, der fliegt). Starke Reminiszenzen an Franz Kafka enthält seine 1951 mit dem renommierten Akutagawa-Preis ausgezeichnete Langerzählung „Kabe – S. Karuma-shi no hanzai“ (1951; Die Mauer. Das Verbrechen des Herrn S. Karma), die als eine Art Gegenstück zu Kafkas Prozeß gestaltet ist.
Als sein berühmtestes Werk gilt der Roman Suna no onna (1962; Die Frau in den Dünen, 1967), der in Bildern von großer Suggestivität die Fluchtbewegungen eines entfremdeten Menschen aufzeichnet. Ein Lehrer und passionierter Insektensammler fährt aus der Stadt an die Küste und gerät in eine wüstenartige Gegend, stürzt in ein tiefes Sandloch und findet für die Nacht Aufnahme in einem Haus. Am nächsten Tag wird ihm bewusst, dass er in einer Falle sitzt, denn er muss nun mit seiner Wirtin in schweißtreibender Mühsal schaufelnd gegen den unablässig herabrieselnden Sand ankämpfen, um von außen mit Wasser und Nahrung versorgt zu werden. Im Laufe einer monatelangen Gefangenschaft wandelt sich langsam seine Perspektive. Sein Interesse an der Welt draußen erlahmt, das Verhältnis zur Frau bleibt ambivalent. Als er schließlich die Gelegenheit zur Flucht erhält, hat diese ihren Reiz verloren. Der Roman endet mit zwei Dokumenten, in denen der seit sieben Jahren Vermisste offiziell für verschollen erklärt wird. Der auch durch die preisgekrönte Verfilmung durch den Regisseur Teshigahara Hiroshi international bekannt gewordene Roman gilt als eines der größten Monumente der japanischen Literatur seit dem Zweiten Weltkrieg.
Suna no onna wird häufig als erster Teil einer Art Trilogie betrachtet, zu der außerdem die Romane Tanin no kao (1964; Das Gesicht des Anderen, 1971) und Moetsukita chizu (1967; Der verbrannte Stadtplan, 1993) gezählt werden. Tanin no kao, eine Variation zum Thema Identität, besteht aus den Aufzeichnungen eines Ich-Erzählers, gerahmt von einem Brief an seine Frau und einem Brief der Frau an ihn. Der Erzähler ist ein Wissenschaftler, der sich durch sein bei einem chemischen Experiment entstelltes Gesicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen fühlt und der mit Hilfe einer nach dem Gesicht eines anderen modellierten Maske seine Frau, die sich von ihm abgewandt hatte, zurückgewinnen möchte. Die Maske entlarvt die Scheinheiligkeit der Gesellschaft, sie bietet auch die Möglichkeit zu einem Neuanfang, der allerdings nicht gelingt. Die Ehefrau, die das Maskenspiel von Anfang an durchschaut hat, teilt ihm mit: „Du brauchst mich gar nicht. Was du brauchst, ist ein Spiegel. Denn jeder andere ist für dich nichts als ein Spiegel, in dem du dein Bild siehst.“ Die Kritik würdigte das Werk als brillante existentielle Allegorie, die die fundamentale Einsamkeit des Menschen und seine Unfähigkeit zur Kommunikation beschreibt.
Moetsukita chizu ist experimenteller und lässt sich als Gegenstück zu Michel Butors L’ emploi du temps lesen. Ein Detektiv berichtet darin von seinem Kampf mit einer großen, anonymen Stadt. Seinen Auftrag, einen seit einem halben Jahr vermissten Angestellten ausfindig zu machen, kann er nicht ausführen. Jede Spur führt in eine Sackgasse, und statt den Fall aufzuklären, wird er selbst in einen Mord verwickelt. Ein Gedächtnisverlust raubt ihm schließlich jede Orientierung. So labyrinthisch die Stadt für den Helden ist, so labyrinthisch ist das Buch für den Leser. Z.B. treten zahlreiche Doppelgänger des Gesuchten auf, die zugleich dem Suchenden ähneln.
Hako otoko (1973; Der Schachtelmann, 1992) ist A.s nächste große Parabel in Romanform: Ein Mann wandert ziellos umher und verbirgt seine Identität unter einem großen Karton, den er sich übergestülpt hat und der zugleich seine Behausung bildet. So steht die Schachtel zugleich für Heimatlosigkeit und ist Ersatzheimat; sie begründet die Anonymität und Einsamkeit des Mannes, erlaubt ihm jedoch auch voyeuristische Akte. Die Handlung des Romans löst sich in zahlreiche Parallelgeschichten mit doppelgängerartigen Figuren auf. Eine Grundidee von Hako otoko, durch selbstgewählte Isolation Abstand von der Welt zu gewinnen, erinnert stark an die im Denken und der Ästhetik Japans verwurzelte Tradition des Einsiedlertums. Inneres Gleichgewicht scheint der Protagonist jedoch nicht zu erlangen, denn seine Aufzeichnungen zeugen von starker Zerrissenheit. In Hako otoko wird erstmals auch der Akt des Schreibens selbst thematisiert. Motivisch scheint der in der futuristischen Alptraumwelt eines Krankenhauses spielende Roman Mikkai (1977; Heimliche Begegnungen) an Hako otoko anzuknüpfen, zumal dessen letzter Satz lautet: „Ich höre die Sirene eines sich nähernden Krankenwagens.“ Die Geschichte nimmt in einer Alltagssituation ihren Ausgang: Eines frühen Morgens erscheint ein Krankenwagen, ein noch friedlich schlummerndes Paar wird aus dem Schlaf gerissen, die Frau abtransportiert. Der verwirrte Mann eilt ihr ins Krankenhaus nach, wo er sie aber nicht ausfindig machen kann. Auf seiner Suche macht er stattdessen absurde und groteske Entdeckungen. Schwarzer Humor und Satire durchziehen die zutiefst pessimistisch getönte Schilderung des Krankenhauses als einer total überwachten, von sexbesessenen Ärzten, Schwestern und Patienten bevölkerten Welt. A.s Affinität zur Science-fiction ist hier deutlich spürbar. Seit den 1950er Jahren verfasste er Prosawerke und Theaterstücke mit futuristischer Thematik, etwa die Erzählung „R 62-gô no hatsumei“ (1953; „Die Erfindung des R 62“, 1988) und den Roman Dai-yon kanpyôki (1959; Die vierte Zwischeneiszeit, 1975), eine kriminalistisch gestaltete Geschichte um einen Wissenschaftler, der eine Maschine für Zukunftsvoraussagen erfunden hat und einem makabren Unternehmen zur Züchtung von Unterwasser-Kiemenmenschen auf die Spur kommt, mit der man einer bevorstehenden globalen Flutkatastrophe begegnen will. Die düstere Untergangsvision griff A. im wichtigsten Erzählwerk der 1980er Jahre, dem Roman Hakobune Sakuramaru (1984; Die Arche Sakuramaru) wieder auf.
Im Gesamtwerk A.s nimmt das dramatische Schaffen breiten Raum ein. Häufig dramatisierte er Stoffe seiner Prosawerke. Das titelgebende Stück einer Sammlung von drei auch ins Deutsche übertragenen Einaktern ist Bô ni natta otoko (1969; Der Mann, der zum Stock wurde, 1969). Im ersten, surrealistischen Stück „Kaban“ („Der Koffer“) versuchen zwei Frauen, einen Koffer zu öffnen, der in Wirklichkeit ein nackter Mann ist. Das zweite Stück bildet eine Art inneren Monolog eines Boxers in seinem letzten Kampf kurz vor dem K.-o.-Schlag. „Der Mann, der zum Stock wurde“ ist wie Tomodachi (1967; Freunde, 1984) die Theaterversion einer zuvor publizierten Erzählungen. In Tomodachi geht es wie in der Erzählung „Chinnyûsha“ (1952; Die Eindringlinge) um eine Wohnungsbesetzung durch eine achtköpfige Familie, die die rechtmäßigen Bewohner tyrannisiert und schließlich tötet. 1973 gründete A., der selbst die Inszenierungen übernahm, sein eigenes Theaterensemble. Daneben entstanden Hörspiele, Fernsehproduktionen und Essays. Immer wieder wurde er mit Kafka, Samuel Beckett, Albert Camus und Jean Genet verglichen. Nicht zu übersehen ist jedoch auch sein schwarzer Humor, der beispielsweise seinen letzten Roman Kangarû nôto (1991; Die Känguruhhefte, 1996) auszeichnet.
An A.s Werk besticht die Konsequenz und Geschlossenheit seiner Thematik. In der modernen japanischen Literatur nimmt er eine eigenständige und wichtige Position ein, die unter anderem auch für den Nobelpreisträger Ôe Kenzaburô eine wichtige Orientierungsmarke bildete.
Irmela Hijiya-Kirschnereit
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Literaturangaben:
DIE ZEIT (Hrsg.): DIE ZEIT Literatur-Lexikon. Autoren und Begriffe in sechs Bänden. J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 2008. 6 Bd., 3384 S., 99,95 €.
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