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Ein vielversprechendes Debüt – Judith Schalanskys „Blau steht dir nicht“

Presseschau vom 29. April 2008

© Die Berliner Literaturkritik, 29.04.08

 

BERLIN (BLK) – Die „Untiefen einer sehnsuchtsvollen Kindheit an der Ostsee“ in Judith Schalanskys Debüt gefallen der „FAZ“. Die „SZ“ ist sehr angetan von Jörg Fausers Sprache in seinem Romanfragment „Die Tournee“, findet die Episoden aber nicht geschickt miteinander verknüpft. Zwei Bücher über Russland und dessen künftigen Präsidenten sind laut „SZ“ weniger gelungen. Außerdem in der Presseschau: Ken Follett, Jürgen Habermas und Marlene Streeruwitz.

„Frankfurter Allgemeine Zeitung“

Judith Schalansky sei mit „Blau steht dir nicht“ ein beeindruckendes Romandebüt gelungen, findet die „FAZ“. Darin schippere die Autorin durch die „Untiefen einer sehnsuchtsvollen Kindheit an der Ostsee“ zu DDR-Zeiten. „Matrosenroman“ laute die Genrebezeichnung des Buches, und so liefere die Matrosenuniform Schalansky den Anlass für gründliche historische Recherchen einerseits und erotische Schwärmereien andererseits, die „verwirrend wie fesselnd für den Leser“ seien. Die experimentelle Form – Bruchstücke verschiedener Gattungen werden zusammengefügt – könne anfänglich etwas irritieren, aber die Sprachfertigkeit der Autorin und die Poesie seien ergreifend: „Ein vielversprechendes Debüt“, schließt die Rezensentin der „FAZ“.

„Neue Zürcher Zeitung“

Eine beeindruckende Trauertirade habe Marlene Streeruwitz mit „Der Abend nach dem Begräbnis der besten Freundin“ geschaffen, meint die „NZZ“. Die österreichische Dramatikerin und Romanautorin spiegele darin zwei Frauenleben ineinander. Die an Lungenkrebs gestorbene Lili erscheine nur noch in der Erinnerung der Freundin, die Lili jahrzehntelang Alibis für ihre Affären geliefert habe. Am Steuer ihres Autos erinnere sie sich an die Tote, „allein mit ihren Ängsten, Schuldgefühlen und der Einsamkeit“. Interessant sei der Stil dieser Schriftstellerin, die im „vollständigen Satz“ „eine Lüge“ sehe und deren Markenzeichen eine anarchistische Interpunktion sei. Das verleihe der Sprache besondere Ausdrucksfähigkeit, schreibt die Rezensentin.

Auch im Werk des noch jungen französischen Romanciers Olivier Adam seien Verlust, Trauer sowie die Art und Weise, damit umzugehen, bedeutsame Themen, informiert die „NZZ“. Adam beschreibe anhand seines Protagonisten Olivier, wie nach dem plötzlichen Selbstmord der schwer depressiven Mutter ein ganzes Leben aus den Fugen gerate. Der Vater könne die Lücke nicht schließen. Das mag als Wesentlichkeit nicht besonders neu klingen – Adam formuliere es aber erzählerisch facettenreich aus. So bleibe „trotz einem dauermelancholischen Grundton“ Olivier Adam in seinem Roman stilsicher auf Kurs. Er bemühe „keine pathosgetränkten Bilder“, die Erzählung ergreife einen auch so. „Ein gutes Buch“, schließt der Rezensent.

Jürgen Habermas denke über Europa und über politische Öffentlichkeiten nach, schreibt die „NZZ“. Der elfte Band seiner „Kleinen politischen Schriften“ kündige sich mit einem Komma und mit einem vernehmlichen Seufzer an: „Ach, Europa“. Der Philosoph seufze weniger über Europa und seine Aussichten als vielmehr über die Politik und die nationalen Politiker, die Europa die Aussicht auf seine mögliche Einigung in Vielfalt verstellten. Wenn eine europäische Identität schwächer sein sollte als eine nationalstaatliche, so bedürfe sie doch zu ihrer Ausbildung einer europaweiten Öffentlichkeit. Insbesondere den Qualitätszeitungen erwachse in diesem „demokratieförderlichen Prozess wechselseitiger Übersetzungen eine Aufgabe“, findet Habermas. Mit Verve verteidige Habermas die „seriöse Presse als Rückgrat der politischen Öffentlichkeit“.

Joseph Vogl widmet sich laut „NZZ“ dem Zaudern. Vogl, Kulturwissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin, insistiere: Wer zögert, ist nicht einfach passiv. Auch Sigmund Freud habe sich redlich und, wie er einräumen musste, vergeblich bemüht, dem Geheimnis dieser „Handlungshemmung“ auf die Schliche zu kommen. Vogls Miniaturen zum Zaudern nähmen nicht zufällig ihren Ausgang von Freuds ästhetischer Exkursion. Den „kunstgeschichtlichen wie bibelexegetischen Kenntnisstand seiner Zeit gekonnt missachtend“, habe Freud einen vielschichtigen, ja abgründigen Text geschrieben. In der Geste radikalen Zauderns, die Vogl auch bei Aischylos’ Orest, bei Schillers Wallenstein, bei Musil, bei Kafka und anderen rekonstruiert, würden die Umrisse einer alternativen Praxis sichtbar, meint der Rezensent.

„Süddeutsche Zeitung“

Ken Folletts neuer Mittelalter-Roman „Die Tore der Welt“ befinde sich zwischen „Kathedrale und Spiele-Konsole“, meint die „SZ“. Das Buch türme sich vor dem Leser mit seinen nahezu 1300 Seiten auf wie eine Kathedrale und wirke einschüchternd. Staunend verfolge man die „handwerkliche Perfektion“ Folletts, mit der er sein außerordentlich zahlreiches Personal einführt. Der neue Roman spiele zwei Jahrhunderte später als Folletts weltweiter Bestseller „Die Säulen der Erde“, nämlich im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts, im England des aufkommenden Handelsbürgertums, des 100-jährigen Krieges und der Pest. Eine Inhaltsangabe sei unmöglich, auch würde man dem Leser damit die Spannung rauben. Dieses Buch sei erstklassiges Genre, aber es sei „kein originär literarisches“. Von der „wahngespeisten Totalität des Tolkienschen Frühmittelalters“ unterscheide sich dieser Kosmos in seiner „kalkulierten Nüchternheit, die durch Einfälle wettmacht“, was ihr an Phantasie fehle.

Jörg Fausers (1944-1987) Romanfragment „Die Tournee“ sei nun in einer mustergültigen Nachlass-Edition erschienen, informiert die „SZ“. Fausers Ruhm in den 1980er Jahren – er verunglückte 1987 tödlich – sei ein „Epiphänomen der deutschen Bukowski-Welle“ gewesen. In der Heraufbeschwörung eines bestimmten randständigen Milieus, in dem es um Verlierertum, Alkohol und Drogen gehe, sei Fauser in deutscher Sprache unüberboten. Wie Arno Schmidt (1914-1979) oder Eckhard Henscheid habe Fauser seine Antennen auf die wirklich gesprochene Sprache eingestellt. Der Rezensent lobt also ausdrücklich die „streetsmarte“ und realitätsgerechte Sprache des Autors, er bemängelt aber auch, dass die einzelnen Romanepisoden und -charaktere kaum noch aufeinander bezogen seien.

Die „SZ“ schreibt, dass Jürgen Kaube mit „Otto Normalabweicher“ eine Soziologie der Abweichung skizziere. Kaube, Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, beleuchte in einer Reihe von Aufsätzen das Phänomen des Aufstiegs der Minderheiten. Der Einzelne entspreche in seiner Lebensweise immer weniger erwartbaren Durchschnittswerten; das Anderssein sei selbst normal geworden, beispielsweise trage der Beamte im gehobenen Dienst ein Piercing. Kaube seziere treffend „Übertreibungen aller Art, falsche Aufregungen und empiriefreie Behauptungen“. Gegen die Denkfaulheit, Verflachung und „Gefahr, die in der Abschaffung sozialer Erwartungen steckt“, seien Kaubes Texte „in ihrer scharfen Gelehrsamkeit selbst das beste Gegengift“, schließt der Rezensent.

Die „SZ“ bespricht zwei Bücher über Russland und dessen künftigen Präsidenten Dmitrij Medwedew. In Boris Reitschusters „Der neue Herr des Kreml?“ stehe Wladimir Putin genauso im Mittelpunkt wie Medwedew. Reitschuster beschreibe treffend die Unterdrückung der Opposition. Der Autor dringe tief in die russischen Verhältnisse ein, wahre aber gleichzeitig Distanz, um sein Thema aus vielen Perspektiven zu betrachten. Doch leider erfahre der Leser nicht sehr viel Neues über Medwedew, über den sowieso wenig bekannt ist. Das Medwedew-Porträt komme zu früh, um „fundiert Auskunft zu geben“. Den Aufsätzen des Sammelbandes von Norbert Schreiber fehle etwas der rote Faden, Originalbeiträge stünden neben schon publizierten Artikeln.

Carola Schmid erläutere in ihrem Buch „Korruption, Gewalt und die Welt der Polizisten“ die Gründe für polizeiliche Übergriffe in Südamerika, behauptet die „SZ“. Erkenntnisse über die Polizeiapparate des Subkontinents habe es bisher kaum gegeben, schreibt die Rezensentin, die Soziologin Schmid habe diese Forschungslücke mit ihrer Habilitationsschrift jetzt geschlossen. Sie habe Medien ausgewertet und sich auf umfangreiche Befragungen von Polizisten gestützt, das Ganze mit den deutschen Ordnungshütern verglichen. Schmids Studie sei ein wichtiger Beitrag zur entwicklungspolitischen Debatte, doch um der besseren Lesbarkeit willen, hätte das Buch ein strengeres Lektorat verdient gehabt. (wip/car)

Literaturangaben:
ADAM, OLIVIER: Klippen. Roman. Aus dem Französischen von Carina von Enzenberg. SchirmerGraf Verlag, München 2008. 238 S., 17,80 €.
FAUSER, JÖRG: Die Tournee. Roman aus dem Nachlass. Herausgegeben von Jan Bürger und Rainer Weiss. Jörg-Fauser-Edition IX. Alexander Verlag, Berlin 2007. 269 S., 19,90 €.
FOLLETT, KEN: Die Tore der Welt. Historischer Roman. Aus dem Englischen von Rainer Schumacher und Dietmar Schmidt. Mit Illustrationen von Jan Balaz. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2008. 1294 S., 24,95 €.
HABERMAS, JÜRGEN: Ach, Europa. Kleine politische Schriften XI. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 192 S., 9 €.
KAUBE, JÜRGEN: Otto Normalabweicher. Der Aufstieg der Minderheiten. Verlag Zu Klampen, Springe 2007. 190 S., 16 €.
REITSCHUSTER, BORIS: Der neue Herr des Kreml? Dmitrij Medwedew. Econ, Berlin 2008. 256 S., 16,90 €.
SCHALANSKY, JUDITH: Blau steht dir nicht. Matrosenroman. Marebuchverlag, Hamburg 2008. 139 S., 18 €.
SCHMID, CAROLA: Korruption, Gewalt und die Welt der Polizisten. Deutschland, Chile, Bolivien und Venezuela im Vergleich. Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerikakunde, Band 64. Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2007. 424 S., 48 €.
SCHREIBER, NORBERT: Russland. Der kaukasische Teufelskreis oder die lupenreine Demokratie. Wieser, Klagenfurt 2008. 450 S., 35 €.
STREERUWITZ, MARLENE: Der Abend nach dem Begräbnis der besten Freundin. Weissbooks Verlag, Frankfurt am Main 2008. 61 S., 12 €.
VOGL, JOSEPH: Über das Zaudern. Diaphanes, Zürich / Berlin 2007. 128 S., 12 €.

Presseschau vom 28. April 2008

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