BERLIN (BLK) – Die von ihrer westfälischen Heimatlandschaft, aber auch von der ihr zur zweiten Heimat gewordenen Landschaft des Bodensees sowie von einer tiefen Religiosität geprägte Annette von Droste-Hülshoff ist bis heute eine der bedeutendsten deutschen Lyrikerinnen und Erzählerinnen.
Sie wurde am 10. Januar 1797 auf dem Rittersitz ihrer Familie, einem westfälischen Wasserschloss nahe Münster, geboren. Hier verlebte sie ihre Kindheit und Jugend und nahm am Unterricht ihrer Brüder durch Hauslehrer teil. Hochbegabt und sensibel brillierte sie im Familien- und Freundeskreis gern durch Witz und Improvisationsvermögen, fühlte sich aber auch oft unverstanden und deprimiert. Durch ihren scharfen, kritisch hinterfragenden Verstand geriet sie leicht in eine Außenseiterrolle.
Dabei hat die Droste wie kaum ein anderer dichtender Zeitgenosse die engen Konventionen der Restaurationszeit getragen, allerdings auch weithin bejaht. Als Frau musste sie ihre dichterische Arbeit rechtfertigen, denn Selbstaussage stand ihrem Geschlecht nicht zu. Als westfälisches Adelsfräulein lebte sie inmitten eines eng geschlossenen Familienkreises, der das Dichtergeschäft als „reinen Plunder, unverständlich und konfus“ missbilligte. Als unverheiratete Jungfer musste sie gesellschaftlich zurückgezogen leben, man erwartete von ihr, dass sie nach den Kranken schaute und bei den Sterbenden saß, jedenfalls ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellte. Schließlich war sie zeit ihres Lebens ein treues Mitglied der katholischen Kirche. Die politische Bewegung ängstigte und empörte sie, besonders die langsame Auflösung der Ständegesellschaft machte ihr zu schaffen, schien das doch gegen die gottgewollte Ordnung gerichtet zu sein.
Obwohl ein schweres psychosomatisches Krankheitsschicksal ihr Leben überschattete, konnte die Droste sich – wenigstens zeitweise – durch das Schreiben aus den Beengungen von Herkunft, Lebensweise und Umwelt befreien. Wie viele ihrer dichterischen Zeitgenossen somatisierte sie die Umklammerung durch die traditionelle Väterwelt. Mit 17 Jahren sprach sie in einem Brief zum ersten Mal von ihrer „Auszehrung“. Die Krankheit besserte sich hin und wieder, doch gesund wurde sie nie. Ihre dichterische Arbeit hat sie dem Körper förmlich abgerungen. Gegen die gesellschaftlichen, familiären und physischen Begrenzungen erlaubte die schöpferische Arbeit eine Art Selbstbewahrung, besonders in den Jahren ab 1839, als in zwei Aufenthalten auf Meersburg am Bodensee das lyrische Hauptwerk entstand, begleitet und inspiriert durch die sinnlich-mütterliche Liebe zu dem 17 Jahre jüngeren Levin Schücking.
Durch die Bekanntschaft mit Anton Matthias Sprickmann fand die junge Annette zunächst in Münster für sieben Jahre einen gleichgesinnten Gesprächspartner und kritischen Leser ihrer Jugendwerke. In Bökendorf bei Brakel, auf dem Stammsitz der mütterlichen Familie, traf sich seit 1813 jeden Sommer ein romantischer Kreis junger Leute, darunter die Gebrüder Grimm, Anna und August von Haxthausen, Amalie Hassenpflug, August von Arnswaldt, Heinrich Straube und die Droste-Schwestern. Hier begann Annette 1820 mit der Arbeit am religiösen Gedichtzyklus “Das Geistliche Jahr“, ihrer ersten bedeutenden Dichtung. Im Sommer dieses Jahres kam es zu einer verwickelten Liebesgeschichte mit Straube und Arnswaldt, an deren Ende sich, nach zeitgenössischem Verständnis, ein „Skandal“ ereignete: Annette hatte sich nicht eindeutig erklärt, hatte beiden Hoffnungen gemacht und sich so kompromittiert. Ihr Ruf war bei den Bökendorfern ruiniert und sie kehrte nach Hülshoff zurück.
Das ist auch der werkbiographische Hintergrund für die Entstehung ihrer religiösen Dichtung. Die Droste reagierte auf die Bökendorfer Ereignisse mit einer tiefen Lebenskrise. Für sie war nichts mehr so, wie es war: Heimat, Glaube, Geborgenheit und Glück; es blieben Verunsicherung und ein bedrückendes Schuldgefühl. In dieser kritischen Situation unterzog sich die Dichterin einer vorbehaltlosen Selbsterforschung. Alles wurde in Frage gestellt, was jemals gegolten hatte. Das Dokument dieser beispiellosen Ich-Analyse war der erste Teil des „Geistlichen Jahres“. Das „Gemüt“, die Befindlichkeit eines höchst komplizierten Innenlebens, bestimmt dieses Werk. Sie habe „keinen Gedanken gescheut, auch den geheimsten nicht“, gestand die Droste – und so gilt diesen Gedichten nichts als unantastbar, weil sich das lyrische Ich selbst fundamental in Frage stellt. Die Radikalität dieses experimentellen Schreibverfahrens wird manchmal unkenntlich unter einer Sprachschicht aus traditionellen poetischen Stilmitteln und Mustern der Frömmigkeitsliteratur, aber dennoch ist dies die Tiefenstruktur des „Geistlichen Jahres“. Als sie nach achtzehn Jahren die Arbeit an ihrem „Lebensbuch“, das für sie immer auch ein „Schuldbuch“ war, fortsetzte, war jetzt das individuell unlösbare Problem der tiefsten Verschuldung aufgehoben in der religiösen Selbstdefinition der dichterischen Existenz. Das individuelle Ereignis des Gott-Verlustes wurde jetzt weitgehend verallgemeinert, die eigene Lebensgeschichte exemplarisch gedeutet. Die Botschaft steht jetzt im Mittelpunkt, und manche Texte tendieren zu religiösen Zeitbildern.
Erst ab 1825 durchbrach sie ihre selbst gewählte Isolation und fand auf Reisen ins Rheinland wieder Anschluss an das literarische Leben. Nach dem Tod ihres Vaters 1826 zog sie auf den Witwensitz der Mutter, Rüschhaus bei Münster. Das eigenwillige Dichterdomizil, welches Annette in besonderer Weise liebte, ist heute Museum und vermittelt noch immer einen Eindruck der einstigen Atmosphäre. Die Verbindung zu dem Münsteraner Autorenkreis im Hause des Philosophieprofessors Christoph Bernhard Schlüter förderte entschieden das literarische Selbstbewusstsein der jungen Dichterin. Im Salon der Freundin Elise Rüdiger lernte sie auch den so viel jüngeren Kritiker Levin Schücking näher kennen. 1838 erschien ihre erste Lyriksammlung – aus Familienrücksicht verschwieg die Verfasserin ihren vollen Namen – in einem Lokalverlag und wurde ein Misserfolg. Die Wiederaufnahme und Fertigstellung des Zyklus „Das Geistliche Jahr“ bis Januar 1840 in Abbenburg bezeichnete dann den Schritt der Droste zur poetischen Eigenständigkeit. Pläne zu einem Westfalenroman wurden geschmiedet und eine rege Balladenproduktion setzte ein. Die Droste unterstützte Schücking mit Beiträgen für „Das Malerische und Romantische Westfalen“. Die Gedichte, die sie ihm ablieferte, zählen heute zu den besten deutschen Balladendichtungen. Im Sommer 1841 vollendete sie ihre Meisternovelle „Die Judenbuche“, die im Jahr darauf als Fortsetzungsgeschichte in Cottas Stuttgarter „Morgenblatt“ erschien.
Eine „Kriminalgeschichte“ nannte sie jene Erzählung, die die Literaturwissenschaft zu einem Stück Weltliteratur erklärte. Gelegentlich in den Text eingeschobene Bemerkungen, in denen die Erzählerin sich zu dem Grundsatz bekennt, nur belegbare Tatsachen mitzuteilen, versichern dem Leser nachdrücklich, dass er es nicht mit „einer erdichteten Geschichte“ zu tun habe. Der Stoff geht in der Tat auf eine wahre Begebenheit aus dem Umkreis der Dichterin zurück. Neben der mündlichen Überlieferung diente der Droste vor allem die schriftliche Fassung dieses Vorfalls als Quelle, die ihr Onkel August von Haxthausen 1818 als „Geschichte eines Algierer-Sklaven veröffentlicht hatte. Der zu aggressivem Stolz veranlagte Junge Friedrich Mergel, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts in einem abgeschiedenen Ort in Westfalen aufwächst, verfällt seinem diabolischen Onkel Simon Semmler, dem die Rolle eines Verführers zum Bösen zukommt, und wird mit achtzehn Jahren mitschuldig am Förster Brandis, den er wissentlich einer gefährlichen Bande von Holzfrevlern in die Arme treibt. Vier Jahre später erschlägt er den Juden Aaron, von dem er sich öffentlich gedemütigt fühlt, im Brederholz unter einer Buche. Er flieht gemeinsam mit seinem ständigen Begleiter Johannes Niemand aus dem Dorf und kann daher nicht für seine Tat belangt werden. Als 28 Jahre später ein verkrüppelter Mann aus türkischer Gefangenschaft ins Dorf zurückkehrt, glaubt man in ihm Johannes Niemand zu erkennen. Einige Monate später findet man ihn erhängt an der so genannten Judenbuche und identifiziert ihn durch eine Narbe als Friedrich Mergel. In seinem Selbstmord erfüllt sich der hebräische Spruch, den die Juden nach dem Mord an Aaron an der Buche anbringen ließen: „Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast“. Unaufhaltsam hat der Baum den Täter zu sich herangezogen, bis er sich schließlich wie Judas am Baum erhängt hat.
Die Erzählerin ging durch unvoreingenommene Analyse des Falles Mergel dem Geheimnis einer unglücklichen Existenz nach, suchte dessen Schicksalhaftigkeit zu ergründen, das Dunkel von Vorurteilen und mystischen Vorstellungen aufzuhellen, indem sie das Handeln, die psychischen Reaktionen, das sittliche Verhalten des Menschen aus der Summe seiner konkreten Umweltbeziehungen ableitete. An die Stelle metaphysischer Erklärungen setzte sie die Determination durch die sozialen Verhältnisse und warnte zugleich vor jedem generalisierenden Urteilsspruch. Doch so detailgerecht das „Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen“ die Voraussetzung für Mergels kriminelle Entwicklung nachzeichnet, so machte die Droste bei jedem entscheidenden Schritt, den Mergel tut, zugleich auch einen Freiheitsspielraum sichtbar, innerhalb dessen sich Mergel jeweils bewusst zum Bösen entscheidet. „Die Judenbuche“ verlangt den aktiven Leser, der hier die Rolle des Detektivs zu übernehmen und die vom Erzähler vermittelten Fakten zu prüfen und aus versteckten Hinweisen seine Schlüsse zu ziehen hat.
Im Herbst 1841 besuchte die Droste ihre mit dem Germanisten Joseph von Laßberg verheiratete Schwester Jenny auf Schloss Meersburg am Bodensee. Dort hatte auch Schücking als Laßbergs Sekretär eine Anstellung gefunden. Die enge Zusammenarbeit mit Schücking, die auch eine subtile Liebesbeziehung mit einschloss, wirkte anregend auf ihre Lyrikproduktion. Weitere Publikationen in Cottas „Morgenblatt“ machten die gebildete Welt auf sie aufmerksam. Nach 1843 bahnte sich das Zerwürfnis mit Schücking an, der die Schriftstellerin Louise von Gall geheiratet hatte. Die Droste, nun völlig auf sich allein gestellt, brach erneut nach Meersburg auf. Hier entstanden die meisten ihrer Naturgedichte und zahlreiche Balladen, die die Grundlage ihres zweiten Gedichtbandes bildeten. Eigenwillige Beschreibungspoesie und reflexive Gedankendichtung, Ich-Aussprache in stimmungshaften Partien und zugleich ein Verzicht aufs Nur-Persönliche – das sorgte für eine beabsichtigte stilistische Diskontinuität und für Vieltönigkeit in ihren Gedichte. Die 1844 bei Cotta erschienene erste Gesamtausgabe verschaffte ihr endlich allseitige literarische Anerkennung. 1844 erwarb sie ein Haus, das Fürstenhäuschen bei Meersburg, und lebte dort zurückgezogen und von erneuter Krankheit heimgesucht, unterbrochen nur von einem Besuch in Westfalen1845/46, bis zu ihrem auf der Meersburg erfolgten Tod am 24. Mai 1848. Ihr Sterbezimmer und das Arbeitszimmer sind noch heute in der Droste-Gedenkstätte in der Meersburg zu besichtigen.
Wenn es auch das Natur- und Landschaftsgedicht als reinen Typus bei der Droste nicht gibt – das Prinzip der Stilmischung greift auch in die einzelnen Gedichte selbst hinein –, so gelangte sie in ihren Gedichten wie in ihrer Versepik doch immer wieder zu einer Erfassung der Natur, die in ihrer Detailgenauigkeit wie in ihrer Bild- und Sinnbildlichkeit ohne Vorbild ist und die vieles von dem vorwegnimmt, was die Naturlyriker des 20. Jahrhunderts (Oskar Loerke, Wilhelm Lehmann, Georg Britting u.a.) für sich zum Programm erheben sollten. „Aber nach hundert Jahren möchte ich noch gelesen werden“, hatte sich Annette von Droste-Hülshoff gewünscht – sie wird es noch nach 160 Jahren und darüber hinaus.