MÜNCHEN (BLK) – „Eine glatte Million” von Nathanael West ist im März 2011 im Manesse Verlag erschienen. Dieter E. Zimmer hat es aus dem Englischen übersetzt und ein Nachwort dazu geschrieben.
Klappentext: Nathanael Wests bitterböse Satire auf das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist eines der abgründigsten Bücher der US-Literatur – von markerschütternder Tragik und zugleich zum Schreien komisch. Nie wurde der amerikanische Traum genüsslicher konterkariert als in dieser temporeichen Wildwestfarce. Die Welt gehört den Braven und den Tüchtigen! Das jedenfalls glaubt Lemuel Pitkin, der in seiner jungenhaften Einfalt fortwährend an die Falschen gerät: an Revolverkapitalisten, Rattenfänger, Rowdys. Doch so sehr man ihn auch schröpft und schindet, hartnäckig hält unser Yankee von der traurigen Gestalt an seinen Idealen fest. Lemuel opfert nacheinander Auge, Daumen, Gebiss, Bein, Skalp, zuletzt gar sein Leben, um – Ironie des Schicksals – posthum doch noch zu höchstem Ansehen zu gelangen: als Märtyrer einer Sache, die nie die seine war. Dieser Roman entlarvt den Aberwitz einer Welt, in der alles den Gesetzen von Show und Big Business unterworfen ist. Die heiter-beschwingte Art, in der der Erzähler die größten Ungeheuerlichkeiten Revue passieren lässt, macht das Buch zur aufwühlenden Provokation. Mit formvollendeter Perfidie strapaziert Nathanael West die amerikanische Glücksrhetorik, bis diese in puren Zynismus umschlägt.
Nathanael West (1904–1940), Sohn litauischer Juden, wurde als Nathan Weinstein in New York geboren. In den 1930er-Jahren Drehbuchschreiber in Hollywood, war er mit so namhaften Schriftstellerkollegen wie F. Scott Fitzgerald oder Dashiell Hammett befreundet. Sein schmales Erzählwerk weist ihn als gewitzten Kritiker neuzeitlicher Glücksideologien aus.
Leseprobe:
©Manesse©
1
Die Heimstatt von Mrs Sarah Pitkin, einer Witwe in fortgeschrittenem Alter, lag auf einer Anhöhe oberhalb des Rat River nahe der Ortschaft Ottsville im Staate Vermont.(2) Es war eine bescheidene Behausung, erheblich verwohnt zudem, doch war sie ihr und ihrem einzigen Kind, Lemuel, sehr ans Herz gewachsen.
Obschon das Haus aufgrund der angespannten Vermögenslage der kleinen Familie seit Längerem nicht neu gestrichen worden war, war es dennoch nicht ohne Charme. Wäre zufällig ein Antiquitätenhändler vorübergekommen, so hätte ihn seine Bauweise gewiss höchlich interessiert. Da es etwa zu der Zeit erbaut worden war, als General Stark (3) wider die Briten zu Felde zog, spiegelten seine Umrisse den Charakter seiner Armee, in deren Reihen mehrere Pitkins mitmarschiert waren.
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Eines späten Abends im Herbst saß Mrs Pitkin geruhsam in ihrem Wohnzimmer, als es an ihre bescheidene Türe pochte.
Sie hielt kein Dienstpersonal und begab sich wie üblich persönlich zur Tür. „Mister Slemp!“, sagte sie, als sie in ihrem Besucher den reichen Rechtsanwalt des Ortes erkannte.
„Jawohl, Mrs Pitkin, ich komme in einer kleinen geschäftlichen Angelegenheit.“
„Möchten Sie nicht näher treten?“, fragte die Witwe, die bei aller Überraschung nicht darauf vergaß, höflich zu sein.
„Ich glaube, ich muss Ihre Gastfreundschaft tatsächlich für eine kurze Weile in Anspruch nehmen“, sagte der Anwalt mit gütiger Stimme. „Befinden Sie sich wohl?“
„O danke, Sir, durchaus“, sagte Mrs Pitkin, während sie ihm in das Wohnzimmer voranging.
„Nehmen Sie doch im Schaukelstuhl Platz, Mister Slemp“, sagte sie und deutete auf die beste Sitzgelegenheit in dem einfach ausgestatteten Raum.
„Sehr liebenswürdig“, sagte der Anwalt und ließ sich behutsam auf den erwähnten Stuhl nieder.
„Wo ist denn Ihr Sohn Lemuel?“, fuhr der Anwalt fort.
„In der Schule. Aber um diese Zeit müsste er bald zu Hause sein; er treibt sich nämlich nie herum.“ Und in der Stimme der Mutter schwang etwas von dem Stolz mit, den sie für ihren Sohn empfand.
„Noch in der Schule!“, rief Mister Slemp. „Wäre es nicht besser, er trüge zu Ihrem Lebensunterhalt bei?“
„Nein“, sagte die Witwe stolz. „Ich halte sehr auf Bildung und mein Sohn desgleichen. Doch eine geschäftliche Angelegenheit führte Sie her?“
„Ach ja, Mrs Pitkin. Ich fürchte, es handelt sich um eine für Sie unangenehme Angelegenheit, doch Sie werden sich zweifellos im Klaren darüber sein, dass ich in dieser Sache nur im Auftrag handele.“
„Unangenehm!“, wiederholte Mrs Pitkin ahnungsvoll.
„Ja. Squire Joshua Bird hat mir aufgetragen, die Hypothek auf Ihrem Haus zu kündigen. Das heißt, er betrachtet sie als gekündigt“, fügte er hastig hinzu, „sofern es Ihnen nicht gelingt, den notwendigen Betrag binnen drei Monaten aufzubringen, wenn die Schuld fällig wird.“
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„Wie kann ich hoffen, das Geld aufzubringen?», sagte die Witwe gebrochen. „Ich war der Meinung, Squire Bird würde das Darlehen gerne verlängern, wo wir ihm doch zwölf Prozent Zinsen zahlen.“
„Es tut mir leid, Mrs Pitkin, aufrichtig leid, aber er hat beschlossen, es eben nicht zu verlängern. Er verlangt entweder sein Geld oder sein Eigentum.“
Der Anwalt nahm seinen Hut, verneigte sich höflich und überließ die Witwe ihren Tränen.
(Vielleicht interessiert es den Leser, zu erfahren, dass ich mit meiner Vermutung recht hatte. Einem Innenarchitekten, der an dem Haus vorbeigekommen war, war es ins Auge gefallen. Er hatte Squire Bird aufgesucht, um das Haus zu erwerben, und aus diesem Grund hatte jene Persönlichkeit den Entschluss gefasst, Mrs Pitkin an die Luft zu setzen. Der Grund dieser Tragödie trug den Namen Asa Goldstein, sein Geschäftsunternehmen hieß „Koloniale Inneneinrichtung und Architektur“. Mister Goldstein hatte vor, das Haus auseinanderzunehmen und im Schaufenster seines Geschäftslokals an der Fifth Avenue aufzustellen.)
Als Rechtsanwalt Slemp die bescheidene Behausung verließ, begegnete er auf der Schwelle dem Sohn der Witwe, Lemuel. Durch die offene Tür erhaschte der Sohn einen Blick auf seine tränenüberströmte Mutter und sagte zu Mister Slemp: „Was haben Sie meiner Mutter gesagt, dass sie weint?“
„Aus dem Weg, Junge!“, rief der Anwalt. Er versetzte Lem einen so kräftigen Stoß, dass der arme Knabe von den Verandastufen in den Keller fiel, dessen Tür unglücklicherweise offen stand. Bis Lem sich aufgerafft hatte, war Mister Slemp bereits ein gutes Stück Weg entfernt.
Unser Held, obzwar erst siebzehn Jahre alt, war ein kräftiger, feuriger Knabe und lief dem Anwalt nur um seiner Mutter willen nicht nach. Als er ihre Stimme hörte, ließ er die Axt fallen, die er sich bereits gegriffen hatte, und eilte ins Haus, um sie zu trösten.
Die arme Witwe erzählte ihrem Sohn all das, was wir berichtet haben, und die beiden verfielen in tiefen Trübsinn. Wie sehr sie ihre Köpfe auch zermarterten, es wollte ihnen nichts einfallen, was ihnen das Dach überm Kopf hätte erhalten können.
Voller Verzweiflung beschloss Lem schließlich, Mister Nathan Whipple (4) aufzusuchen, des Ortes erlauchtesten Bürger.
Mister Whipple war einstmals Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika gewesen und von Maine bis Kalifornien unter dem liebevoll gemeinten Spitznamen „Shagpoke“ (5) Whipple bekannt. Nach vier erfolgreichen Amtsjahren hatte er seinen Zylinderhut sozusagen zu einer Pflugschar geknautscht und eine zweite Kandidatur abgelehnt, um stattdessen lieber in sein heimatliches Ottsville zurückzukehren und dort wieder zu einem einfachen Bürger zu werden. Er verbrachte seine ganze Zeit zwischen seinem Garagenschuppen und der Rat River National Bank, deren Präsident er war.
Mister Whipple hatte des Öfteren sein Interesse an Lem bekundet, und der Knabe meinte, er wäre vielleicht willens, seiner Mutter bei der Rettung ihrer Heimstatt behilflich zu sein.
©Manesse©
Literaturangabe:
WEST, NATHANAEL: Eine glatte Million. Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Dieter E. Zimmer. Manesse Verlag, München 2011. 224 S., 19,95 €.
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